Konstruktivismus, Wahrnehmung und die sogenannte Wirklichkeit

Biologen, Physiker, Soziologen und Philosophen befassen sich seit langer Zeit mit konstruktivistischen Denkansätzen. Bekannte Namen sind in diesem Zusammenhang Alfred v. Korzybski (Ingenieur und Mathematiker), Ernst von Glaserfeld (Kybernetiker) oder Heinz von Foerster (Biophysiker und Kybernetiker). Für die psychologische Beratung haben dann Gregory Bateson und sein Schüler Paul Watzlawick mit der Palo Alto Gruppe dem systemisch-konstruktivistischen Gedankengut den Weg bereitet1. Watzlawick veröffentliche 1967 mit Janet H. Beavin und Don Jackson das Grundlagenwerk „Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien“2.

Zunächst ist Konstruktivismus nur ein Denkmodell, wie man mit dem, was zu sein scheint, umgehen kann und damit ein wenig von dem Irrglauben Abstand nehmen könnte, dass die eigene Vorstellung von der Wirklichkeit das Maß der Dinge sei. Demnach kann das Denkmodell des Konstruktivismus also auch nicht für sich in Anspruch nehmen, „wahr“ oder „wirklich“ zu sein. Doch stecken eine Menge interessanter Denkansätze darin, die in der menschlichen Kommunikation und Interaktion den entscheidenden Unterschied zwischen „funktionierend“ und „nicht funktionierend“ ausmachen können, weshalb wir näher darauf eingehen wollen im Kontext von Führung und Change-Management.

Der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass Wirklichkeit nur ein beobachterabhängiges Phänomen – eben ein Konstrukt – ist, das auf Wahrnehmungsinterpretationen, subjektiven Annahmen, Wünschen und Zielvorstellungen beruht. Unser Wissen über die Welt ist durch unser Gehirn aus Sinneswahrnehmungen konstruiert und eine objektive Erkenntnis ist danach nicht möglich. Die sogenannte Wirklichkeit ist demnach ein Konstrukt des Gehirnes, wie auch der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt3. Neurophysiologisch ist das gut nachzuvollziehen. Alle Sinnesreize werden über Sinnesorgane, Nervenbahnen und Synapsen elektrisch/chemisch in das zentrale Nervensystem geleitet und dort mehrfach in verschiedenen Kernen und Zentren verarbeitet, gefiltert und interpretiert, bis sie dann auf der „Leinwand“ der Großhirnrinde als wahrgenommene, subjektive „Wirklichkeit“ abgebildet werden. Da jedes Gehirn mit seinen Erfahrungen und „Filtern“ verschieden ist, wird auch jeder  seine sogenannte „Wirklichkeit“ anders wahrnehmen und interpretieren. Erkennen ist aus konstruktivistischer Sicht eine Konstruktion von Wirklichkeit oder das subjektive Erzeugen einer eigenen Welt.

Dieses konstruktivistische Prinzip wurde konsequent cineastisch in der bekannten Matrixtrilogie der Wachowski-Brüder4  zu Grunde gelegt und umgesetzt, in der die Filmfiguren wie Neo, Morpheus, Trinity oder Agent Smith in einer künstlich von Computerprogrammen geschaffenen, mentalen und subjektiv nicht als Artefakte erkennbaren Simulation unserer Welt, der sogenannten „Matrix“,  interagieren.

Die Matrix-Trilogie ist gespickt mit religiösen, mythologischen, philosophischen, literarischen und filmischen Zitaten aus dem Okzident und Orient. Auch der Querverweis auf die Geschichte von „Alice im Wunderland“ mit dem Zitat „Follow the white Rabbit“ (der weiße Hase, der Alice durch einen geheimen Eingang in die andere Welt – das Wunderland – führen soll), spielt auf die verschiedenen existierenden Parallelwelten an. Die Wachowski-Brüder machen aus ihrem Faible für Science-Fiction-Literatur und orientalischen Martial-Arts-Filmen keinen Hehl, genauso wenig wie aus ihrer Inspiration durch Platons Höhlengleichnis, die indische Vedanta-Philosophie und den Zen-Buddhismus. Allesamt Lehren, die das empirische Wissen in Frage stellen oder als Illusion beziehungsweise „Maya“ (eine Art Illusion in der Vedanta-Philosophie) entlarven wollen5.

Andererseits verweist Matrix auch ganz direkt auf konstruktivistisches Gedankengut. Der Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster schreibt analog zu den Sätzen des Revolutionsführers Morpheus aus Matrix „Das mag erstaunlich sein, sollte aber nicht überraschen, denn tatsächlich gibt es ja „da draußen“ weder Licht noch Farbe, es gibt lediglich elektromagnetische Wellen; es gibt „da draußen“ weder Schall noch Musik, es gibt nur periodische Schwankungen des Luftdrucks; „da draußen“ gibt es weder Wärme noch Kälte, es gibt nur Moleküle, die sich mit mehr oder minder großer mittlerer kinetischer Energie bewegen …“.

Nur die jeweils eigene Welt ist für das betreffende Individuum erkennbar und von Interesse und jede Erkenntnis eines Menschen ist demnach eine autopoietische Konstruktion aus ihm von seinen Sinnesorganen gelieferten Daten. Nach von Foerster entsteht Wirklichkeit dadurch, dass ein Mensch sie wahrnimmt, für diese Wahrnehmung Verantwortung trägt und seine Wahrnehmung mit der von anderen Menschen vergleicht6. Die Autopoiese ist die erste hier genannte wesentliche Grundannahme in der Denkwelt des Konstruktivismus.

Eine weitere Grundannahme besagt, dass die Landkarte nicht das Territorium ist. Diesen Begriff hat als erster Alfred Korzybski vor über 100 Jahren geprägt7. In unserem Kopf sind nur Landkarten von dem was für uns ist und nicht die Wirklichkeit an sich, und jeder verfügt über andere Landkarten von der Welt, die er für wirklich hält und handelt danach. Der Mensch baut sich seine Landkarten über seine Sprache und das, wo Sprache nicht klar abbildet, sondern verzerrt, tilgt oder generalisiert, wird die Landkarte im Bezug zur „Wirklichkeit“ systematisch verfälschen wie ein falscher Maßstab oder eine verkehrte Kartenlegende. Umgekehrt ist Sprache auch das Mittel, mit dem Landkarten verändert und neu geschrieben werden können, was die Grundlage des von Korzybski entwickelten neurolinguistischen Trainings war, Jahrzehnte bevor das sogenannte „NLP“ in den achtziger Jahren vom Linguistikprofessor John Grinder und dem Juristen Richert Bandler auch auf dieser Grundlage entwickelt wurde8.

Korzybski beschäftigte sich mit einer Art mathematischer Sprache, mit der man die “Wirklichkeit” besser beschreiben kann, als mit unseren herkömmlichen Sprachen. Eine Regel dieser “Sprache” lautet: Statt dem Wort “ist” (und allen Formen davon) dürfen nur Ausdrücke wie “in meiner Welt” oder “mir scheint” usw. verwendet werden. Sie haben sicher den Unterschied bemerkt. Da wir nur unsere “Landkarte” kennen, können wir auch nicht behaupten, dass etwas “ist”. Wir können nur beschreiben, wie oder was es für uns selber ist – und uns scheint, dass das für jeden etwas ganz anderes ist. Wenden Sie beim nächsten Streit mit Ihrem Gegenüber versuchsweise einmal diese Regel an. Der Streit wird sicher ganz anders verlaufen, als Sie es gewohnt sind.

Ein weiteres wichtiges Konzept des konstruktivistischen Zugangs ist das von Glasersfeld in Abgrenzung zum Wahrheitsbegriff postulierte Prinzip der Viabilität im Sinne der Anpassung an die Umwelt. Wahrheit entsteht danach durch Kommunikation im Sinne des Aushandelns eines Konsenses mit anderen. Es geht nicht mehr um die Übereinstimmung von Denken und Sein, sondern darum, dass die sogenannte Wahrheit in unsere Wirklichkeit passt.  Statt „passend “ wird häufig auch das Wort viabel oder gängig verwendet. Ins Zentrum rückt damit die Funktionalität eines Verhaltenszusammenhangs, die Gangbarkeit einer Problemlösung. Diese Gangbarkeit steht im Widerspruch zu klassischen Bewertungskategorien wie „gut“ oder „schlecht“, die Dinge sind viel eher gängig oder nicht in Abhängigkeit vom Kontext oder vom gewählten Ziel. Viabel oder gängig ist, was sich im Tun und auch im Erkennen als möglich erweist. Das Ziel ist also höchstmögliche Flexibilität im Verhalten – und in der Art und Weise, wie wir Dinge wahrnehmen können. Die Gängigkeit ist ein wichtiges Grundprinzip in dem nahe verwandten Gebiet der ebenfalls aus der Kybernetik hervorgebrachten Systemtheorie, nach der heute in aller Munde befindliche Themen wie systemisches Coaching, systemische Organisationsentwicklung sowie Führen nach systemischen Grundsätzen abgeleitet worden sind. Wir kommen darauf in einem späteren Change-Brief noch ausführlich zurück.

Viele therapeutische Ansätze und  auch Coaching beruhen genau darauf, dass es sich bei einem Problem um ein selbstgeschaffenes Konstrukt aus einer Differenz zwischen einem wahrgenommenen Ist und einem wahrgenommen Soll handelt. Wenn man dieser Grundannahme folgt, dann ergeben sich daraus eine ganze Reihe von Ansätzen, das sogenannte Problem auch wieder selbst zu dekonstruieren. Dabei geht es nicht nur um die wahrgenommene Differenz an sich, sondern auch um die Art und Weise, wie die Wahrnehmung erfolgt und im Innen verarbeitet, verglichen und bewertet wird.


Abb.: Konstruktion von Problemen
(Quelle: nach Dr. Gunter Schmidt, Milton-Erickson-Institut, Heidelberg, 2011)

Ein drittes Prinzip des Konstruktivismus ist die Intersubjektivität. Darunter ist zu verstehen, dass von vielen Menschen konstruierte subjektive Meinungen objektive Züge bekommen. Wenn also viele Menschen das surreale Kunstwerk im Foyer des Krankenhauses als schöne Plastik erkennen, die erkennbar ein  bestimmtes Motiv abbildet, dann steigt die Vermutung, dass es sich „wirklich“ um dieses Motiv handelt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für gelingende menschliche Kommunikation in sozialen Gruppen, wenn man dieselben oder ähnliche Landkarten im Kopf hat. Doch kann Intersubjektivität auch die Quelle von tragischen Irrtümern und furchtbarem Missbrauch sein, wie wir es am Ende der dreißiger Jahre in Deutschland erleben mussten. Hier möchten wir deshalb Paul Watzlawick zitieren, der die Auffassung vertrat, dass der „Glaube des Menschen daran, dass es nur eine Wirklichkeit gäbe, eine gefährliche Selbsttäuschung ist. Die Entdeckung, dass wir uns unsere Wirklichkeit selbst erschaffen, kommt der Vertreibung aus dem Paradies des vermeintlichen So-Seins der Welt gleich.“ Dieser Ansatz kommt dem von Alfred Korzybski mit seiner Sprachregelung „in meiner Welt“ gleich.

Die hier ausgeführten Denkmodelle sind in der Praxis außerordentlich wichtig für jede Art von Führung, Change Management, Kommunikation an sich und für den Umgang mit allen Arten von Konflikten, in denen sich zunächst meist jede Partei im Recht glaubt. Gleichzeitig finden sich hier auch Ansätze, Konflikten zu lösen, indem man die Welt des anderen für ebenso real wie schlüssig akzeptiert wie die eigene und daraus Ideen entwickelt, welche Lösungen es geben könnte, die beiden Welten gerecht werden – oft der sogenannte dritte Weg. Wenn man jetzt noch glauben könnte, dass der andere in seinem innersten an sich eine gute Absicht verfolgt, nur leider die falschen Verhaltensweisen gewählt haben könnte, käme man mit dieser entspannten Haltung möglichen Konfliktlösungen noch einmal ein ganzes Stückchen näher.

Wenn Sie jetzt über Ihren eigenen Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit und Ihre Bewertungen etwas nachdenklich geworden sind und vielleicht sogar anfangen, sich selbst nicht mehr allzu ernst zu nehmen, dann hätten wir unser Ziel erreicht und Sie verfügen über eine wesentliche Grundlage, mit mehr Gelassenheit Ihre Führungs- und Selbstführungsaufgaben anzugehen. Mehr hierzu können Sie im Sinne eines Selbstcoachings in dem ziemlich provokanten Buch des Mailänder Philosophen, Psychologen und Psychoterapeuten Giulio Cesare Giacobbe nachlesen9. Jeder lebt in seiner Welt und es kann immer nur darum gehen, genügend Ansatzpunkte zwischen den eigenen und den Welten der anderen zu finden, um gemeinsam die anstehenden Ziele zu erreichen, anstelle andere davon überzeugen zu wollen, selbst über die „wirkliche“ Wahrheit zu verfügen. Sie werden bemerken, mit wie viel mehr Leichtigkeit im Sinne von Gangbarkeit Ziele erreicht und Aufgaben erledigt werden können.

Pia Drauschke und Dr. Stefan Drauschke, Berlin, September 2014

1 Bateson, G./M.C. Bateson: Steps to an Ecology of mind.Collected, Essays in Anthropology, Psychatry, Evolution and Epistemology: Jason Arenson Verlag (1987)
2 Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don Jackson: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Verlag: Huber Hans (März 2000)
3 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit – Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp Verlag; Auflage: 10 (17. Dezember 1996)
4 Matrix (USA 1999), Matrix Reloaded (USA 2003), Matrix Revolutions (USA 2003)  
5 Goethe-Institut, Viruelle Realität, http://www.goethe.de/wis/med/dos/vir/de5750220.htm
6 von Förster, H/E. von Glaserfeld 1999, Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. Heidelberg, Auer Verlag
7 Unbekannt, „Alfred Korzybski“:http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Korzybski, 2014
8 Insa Sparrer: Systemische Strukturaufstellungen: Theorie und Praxis. Carl Auer Verlag/KNO VA; Auflage: 1., Aufl. (September 2006)
9 Giulio Cesare Giacobbe: Wie Sie Ihre Hirnwichserei abstellen und stattdessen das Leben genießen. Goldmann Verlag; Auflage: 3. Auflage (1. Mai 2005)