Herr Dr. Drauschke, wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, Real Time Strategic Change (RTSC) Verfahren durchzuführen?
Zunächst etwas zu meinem Hintergrund: Die von mir gegründete GÖK Consulting AG ist seit 1990 im Wesentlichen in der Medizin – und speziell im Krankenhausbereich – tätig. Seither habe ich regelmäßig Vorträge auf Kongressen über relevante Themen gehalten oder Lehraufträge an Universitäten wahrgenommen. Zusätzlich absolvierte ich in der Zeit von 2001 bis 2003 eine Trainer- und Coach Ausbildung. Als Gründer und Chef gehörte es immer zu meinen Aufgaben, Führungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Ausbildung sollte der Verbesserung meiner Führungsfähigkeiten dienen und zusätzlich hatte ich Freude daran, immer öfter als Moderator und Trainer mit Führungskräften der Kundenunternehmen zu arbeiten. Aus diesem Steckenpferd ist dann mein derzeitiger „Hauptberuf“ als Moderator, Trainer und Coach geworden mit der Spezialisierung für Großgruppen, nachdem ich die NextHealth (Schwester der GÖK) gegründet habe und in den Aufsichtsrat der GÖK gewechselt bin.
Aber zurück zu Ihrer Frage. Durch den Kontakt zu einem Freund habe ich schon 1998 von Großgruppenarbeit gehört und Erfahrungen damit gesammelt. Ich hatte damals einen Kunden aus dem Bereich „Vertrieb von Medizinischen Produkten“, der eine etwas andere Tagung für seine Außendienstkräfte veranstalten wollte. Und so schlug ich vor, diese nicht wie üblich zu organisieren – einer steht vorne und erzählt – sondern wirklich gemeinsame Arbeit an einem spannendenThema zu ermöglichen. Wir wählten damals als Methode die Open Space Technology, die ebenso wie RTSC zu den Großgruppenmethoden gehört.
Und ihr Freund hatte schon Erfahrung mit Open Space?
Mein Freund war schon länger in der Trainer/Coach Szene aktiv. Er war zwar kein Open Space Spezialist, kannte aber die Methode und brachte mir die wichtigsten Inhalte bei. Zusätzlich habe ich mir gleich einschlägige Literatur, u.a. ein Buch von Harrison Owen über Open Space beschafft und begeistert gelesen. Ich war fasziniert und habe mit meinem Freund gemeinsam das Konzept erarbeitet – und erfolgreich meine Großgruppenpremiere mit mehr als 200 Personen erlebt.
Danach habe ich begonnen, mich für Großgruppenverfahren im Allgemeinen zu interessieren und zu informieren. So habe ich die verschiedenen Verfahren kennengelernt, mit denen wir heute im Wesentlichen arbeiten: Das sind RTSC, World Cafe, Appreciative Inquiry, Zukunftskonferenz sowie Open Space.
Sie haben schon mehrere RTSC Konferenzen gestaltet. Was ist bei RTSC Konferenzen so herausfordernd – und haben Sie gleich ein Beispiel parat?
Es geht meist darum, im Rahmen eines Prozessmusterwechsels vollkommen Neues zu lernen und sich für die Umsetzung zu entscheiden.
In einem konkreten Fall gab es ein Servicezentrum mit mehreren Abteilungen und mit mehreren hundert Mitarbeitern in einem Großklinikum. Thema war die Entwicklung von der Verwaltung zu einem echten „Servicezentrum“, das mehrere medizinische Zentren optimal unterstützen sollte. Neue Verhaltensweisen, eine neue Organisation, eine neue Identität sowie ein neues Verständnis einer Dienstleistungskultur sollten im Krankenhaus etabliert werden.
Notwendig war also Umlernen, Umdenken, ein neues Selbstverständnis entwickeln, ein tatsächlich wesentlicher Wandel. Und das ist das, was ich mit Prozessmusterwechsel meine. Nicht langsames Aufwachsen von Veränderungen im Sinne von Kaizen, sondern rigoroser „Spurwechsel“ im Sinne von Kaikaku.
Und die Krankenhausführung hat Sie gefragt: Wir haben folgendes Problem und können Sie uns da irgendwie helfen?
Dieser Anfrage ging ein Prozess voraus. Wir hatten Ende 2005 begonnen mit diesem Klinikum und dessen Geschäftsleitung die gesamte Unternehmensstrategie zu entwickeln und hatten dabei erstmalig mit Großgruppenmethoden gearbeitet. Das war eine der ersten Open Space Konferenzen im Krankenhauswesen, die sehr erfolgreich verlief. Danach haben wir gemeinsam weiter gearbeitet.
Das Gesamtprojekt lief über drei Jahre. Nach der Unternehmensstrategie wurde die Geschäftsfeldstrategie „Medizin“ vor dem Hintergrund von Qualität und Markt entwickelt. Wir haben festgestellt, dass zu deren Umsetzung wesentliche Änderungen in den Bereichen Medizin und Servicezentren notwendig sind.
Im Höhepunkt des Wandels haben wir sowohl mit den Chefärzten und den Führungskräften aus Pflege und Verwaltung eine RTSC Konferenz durchgeführt. In der Medizin zuerst, in den Servicebereichen ein dreiviertel Jahr später.
Als Prozessbegleiter hatte ich dem Kunden geraten, die Konferenzform RTSC zu wählen. Im Vorfeld haben wir mit Projektgruppen und Arbeitsgruppen den neuen, angestrebten Zustand als Zielbild entwickelt. Es ging um eine unternehmerisch geführte, „echte“ Zentrenstruktur, Prozesssteuerung und verursachergerechte Kosten- und Erlösverteilung, also alles Dinge, die deutlich anders werden mussten als bisher. In der Konferenz wurden vor dem Hintergrund aktueller Änderungsbedarfe diese Lösungen präsentiert. Vorher wurde spürbar aufgezeigt, was passiert, wenn nichts passiert. So wie es für RTSC Konferenzen üblich ist.
Wie verlief die Organisation dieser RTSC Konferenz?
Eine RTSC-Konferenz bedarf einer sehr gründlichen Vorarbeit.
Zunächst wurde festgelegt, wer im RTSC teilnehmen sollte. Diese Großgruppe bestand aus ca. 100 Teilnehmern, alles Führungskräfte aus den Bereichen Medizin und Verwaltung.
Dann führten wir im Zeitraum von drei Monaten vor der Konferenz drei ganztägige Redaktionsteamsitzungen mit einem Querschnitt der Großgruppe, also ca. 15-20 Personen, durch. In diesen Sitzungen haben wir uns u.a. mit der Dramaturgie der Veranstaltung befasst. Ich habe den Teilnehmern das Prinzip des RTSC erklärt, nämlich dass es um Emotion und Aufrütteln, Zueinanderfinden sowie eine gemeinsame Umsetzungsplanung geht.
Gemeinsam überlegten wir, wie „Aufrütteln“ erfolgen könnte, ohne dass es zu Grenzüberschreitungen kommt. Wir hatten beispielsweise Methoden vorgesehen, die alle Sinneskanäle ansprechen, wie z.B. Unternehmenstheater, bestimmte Formen der bildhaften Darstellung oder der Einsatz von Musik.
Genauso intensiv wurden die Inhalte bearbeitet. Ziel war, dass das Team sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch vorbereitet war und eigene Ideen zum Zuge kamen. Vom Redaktionsteam erhielt ich auf diese Weise das Commitment dafür, was wir bei der Konferenz tun konnten. Dadurch waren wir sicher, dass der „harte Kern“ der großen Gruppe bereit ist, die Konferenz -wie geplant- mit zu tragen.
Wie ist das dann in der Konferenz abgelaufen?
Das Grundmuster des RTSC umfasst im Wesentlichen die drei Phasen Aufrütteln, Zueinanderfinden sowie die Lösungsentwicklung. Das entspricht den Veränderungsphasen nach Lacoursie, in denen ein Prozessmusterwechsel erst Irritation hervorruft, dann Frustration, anschließend Unsicherheit und Zögerlichkeit, damit schließlich die volle Entschlossenheit für das Neue folgen kann.
In der Regel beginnen wir im Plenum. Es werden Informationen der Geschäftsleitung übermittelt, die aufzeigen, dass es nicht wie bisher weitergehen kann. Damit wollen wir die Teilnehmer in einem durchaus bekannten Rahmen abholen und mit Fakten aufrütteln.
In der ersten Phase fanden zudem kreative Irritationen statt. Neben den durchaus bedrohlichen Fakten haben wir die Gruppe – mit passender Musik untermalt – aufgefordert, sich in das Szenario zu vertiefen, was sich entwickeln würde, wenn alles so bleibt, wie es ist, keine Veränderung stattfindet, wie wäre es dann in der Zukunft? Wie wäre die Ausstattung? Wie das Miteinander, wie entwickelt sich dann die Kultur im Unternehmen? Was ist dann von der Zukunft zu halten?
Schon diese Intervention kann zu heftiger Betroffenheit führen, weil die Menschen nicht nur die Zahlen hören, die sie schon kennen. Sie können sich tatsächlich in eine innere Vorstellung begeben und zulassen, nach vorne zu denken: „Oh, was passiert, wenn hier nichts passiert?“
Wir arbeiten in dieser Phase sehr gerne mit Unternehmenstheater, so auch in dieser Konferenz. Das Beste ist, wenn die Teilnehmer selbst mitspielen. Wir hatten damals einen Chefarzt motiviert, der gemeinsam mit einem professionellen Schauspieler eine Szene gespielt hat. Er war Chefarzt, sein Partner ein „befreundeter“ M&A-Berater und sie trafen sich wie zufällig nach dem Tennismatch und unterhielten sich heftig über das Krankenhaus. Eine Menge Fakten und Anekdoten reicherten die Szene an und berührten die Gruppe stark, diese Art der Darstellung unterläuft jede Barriere und kommt gut an.
Nachdem in dieser ersten Phase das Ziel war, Betroffenheit zu erzeugen und aufzurütteln, haben wir als Überleitung zur zweiten Phase eine kurze Lesung aufgeführt, die dem Zueinanderfinden diente. Es ging um die Geschichte vom Change-Spezialist und Harvard Professor John Kotter: „Our iceberg ist melting“. Darin geht es um ‚Change’ live, mit all seinen Mustern, typischen Figuren und den wichtigsten Erfolgsfaktoren für den Wandel.
In dieser Fabel leben Pinguine auf einem Eisberg und ein Pinguin erkennt, dass der Eisberg leider verlassen werden muss, weil er bald zerbrechen wird. Können die anderen ihm glauben? Was wird passieren? In der Fabel wird beschrieben, was dieser Pinguin macht, damit die Kolonie nachher tatsächlich umzieht. Das Umziehen der Kolonie ist natürlich ein Prozessmusterwechsel.
Danach haben wir in heterogenen und homogenen Achtergruppen an Lösungen gearbeitet, die im Ansatz bereits vorlagen, in die Gruppen eingebracht wurden und dort ergänzt, mit neuen Ideen versehen, weiterentwickelt wurden.
Typischerweise gab es anschließend abends die ausführliche Abstimmung mit der Unternehmensführung, in der entschieden wurde, welche dieser Anregungen genommen wird und welche nicht. Dies wurde top-down entschieden und am nächsten Tag verkündet, wobei es die Gruppe in der Regel als wertschätzend empfindet, dass wirklich alle Anregungen Gegenstand intensiver Beratungen in der GF waren. Es ist also nicht entscheidend, dass alle Änderungen akzeptiert werden, sondern vielmehr, dass sie ernst genommen und Entscheidungen transparent kommuniziert werden.
Die Verkündung war dann wieder im Plenum?
Die Information über die Entscheidungen mit ihren Begründungen erfolgte am zweiten Tag im Plenum und sogleich wurde die Lösungsarbeit eingeleitet, nämlich die gemeinsame Umsetzung. Wir wählten dafür eine Open Space ähnliche Sequenz, bauten Marktstände mit Lösungsclustern und fragten in die Runde: Was sind die wichtigsten Dinge, die wir in der Umsetzung tun können?
Die Art der Gruppenarbeit hat also ständig an den zweiTagen gewechselt: von Plenum zur Achtergruppe, zu Marktständen, zum Plenum. Von daher ist RTSC schon organisatorisch sehr anspruchsvoll.
Dies ist dann schon Phase drei, …die Lösungsfindung also?
Das ist in der Tat Inhalt des dritten Teils, also Zusammenfinden und gemeinsam Lösungen entwickeln. Auch in dieser Konferenz wurden ganz wesentliche Entscheidungen getroffen, die tatsächlich bahnbrechenden Charakter hatten, die den Weg frei machten für Umsetzungen und Reaktionen des gesamten Hauses. Im Jahr darauf wurde das komplette Unternehmen entsprechend der Lösungsstrategie vollkommen reorganisiert, und zwar auf der Basis der Entscheidungen, die auf dieser Konferenz getroffen wurden.
Was war die letzte Phase dieser RTSC Konferenz, bevor die Teilnehmer nach Hause gehen konnten?
Die letzte Phase gestalten wir so, dass wir ganz am Schluss im Plenum wieder zusammen kommen. So wie es startet, hört es auch auf.
Wir haben mit der Redestab-Methode ein Feedback der Gruppe generiert. Das lief so: Wir hatten vorne einen Redestab. Teilnehmer, die etwas sagen wollten, sind nach vorne gekommen und haben vor versammelter Mannschaft gesprochen. Sie haben gesagt, wie sie die Veranstaltung empfunden haben und wie sie sie fanden. Wir haben tolle, hochemotionale und positive, wertschätzende Feedbacks erhalten. Die Teilnehmer wussten im Vorfeld nicht, was auf sie zukommt, und sie waren im Nachhinein stark beeindruckt von der Aufrichtigkeit und Intensität der gemeinsamen Arbeit. Die Geschäftsführung hat dann noch ihren Dank formuliert und mit einem Ausblick über die weiteren Schritte und die Verwendung der Ergebnisse die Konferenz geschlossen.
Es ist schon sehr beeindruckend, wie viel Menschen bewegen können, die ihre Entscheidung getroffen haben!
Dr. Stefan Drauschke