Verzeihen Sie bitte den Mode-Begriff 4.0 in unserer Überschrift, wir hätten auch die Schlagworte „agil“ oder „VUKA“ im Zusammenhang mit Digitalisierung schreiben können, nur das ist zu lang an dieser Stelle. Doch was hat das alles mit Werten zu tun? Heute reden und schreiben viele Autoren beständig über Führung im neuen digitalen Zeitalter, die so anders, so voll mit Ambiguitäten und Ambidextrien sein soll (Quelle: „Führung und der digitale Wandel“, in: Klinik Markt Inside 14/2018, S. 10-12) und besondere Qualitäten von den Führungskräften abfordert. In der Tat können wir bestätigen, dass neben den eigentlichen Digitalkompetenzen insbesondere die Anforderungen an die Ausprägung von „Soft Skills“ ansteigen, denn wenn weniger Zeit für den direkten persönlichen Kontakt zwischen Führungskräften und Mitarbeitern vorhanden ist, dann muss dieser Kontakt auf Anhieb ziemlich sicher gut gelingen, damit die persönlichen Beziehungen intakt bleiben (Quelle: „Reiche Beziehungen und reiches Leben“, in: Klinik Markt Inside 02/2019, S. 12-14).
Und hier sind wir sogleich am Kern von Kultur und Führung angelangt, und das sind die Werte. Jeder von Ihnen hat Werte, die entscheidend sind für Entscheidungen, Handlungen und die persönliche Ausrichtung. Doch wenn man jemanden fragt, was denn Werte eigentlich sind und vor allem welche Werte der Gesprächspartner im Kern hat, dann wird es meist still oder unklar, wenn nicht vorher in Coachingprozessen dieses an sich unbewusste Thema bereits herausgearbeitet worden ist. Werte sind Motive und Beweggründe, sie vermitteln Sinn und Kraft. Wir nennen sie auch die „Vitamine der Seele“ – wenn sie gelebt werden. Freiheit, Leidenschaft, Sicherheit, Effektivität, Vertrauen etc. sind Werte, die beim näheren Hinterfragen stets mit Kriterien belegt sind, die individuell sehr verschieden sein können. Wenn Sie beispielsweise selbst den Wert Freiheit hoch priorisieren, was bei Führungskräften häufiger vorkommt, und Sie fragen jemanden anderen danach mit dem gleichen Wert, dann werden Sie feststellen, dass auf der tieferen Bedeutungsebene ziemlich unterschiedliche Vorstellungen bestehen, was genau dieser Wert meint. Und dennoch ist der Wert individuell sehr bedeutsam und in Beziehungen ist es nützlich, wechselseitig mehr von den Werten und Wertekriterien der Beziehungspartner zu verstehen, damit die Beziehung gelingen kann.
Doch kehren wir zurück zum Beruflichen. Werte bilden den eigentlichen Unternehmenskern mit allen möglichen Ausprägungen wie Unternehmenskultur, Führungsleitlinie, Strategie, Marke, Image, Design, Leitbild und Leistungsversprechen. Echte Werte werden sich überall manifestieren und erkennbar sein, was dadurch Glaubwürdigkeit und innere Stabilität vermittelt. Doch sind sie in der Regel auch in Unternehmen solange nicht bewusst, bis man sie gezielt ermittelt und in einem möglichst partizipativen Verfahren bis auf die Bedeutungsebene mit Kriterien versehen und abgestimmt hat. Nach dem Unternehmenskulturmodell von E. Schein sind die sog. Glaubenssätze und Überzeugungen ebenso wichtige Treiber für die Ausprägung von Unternehmenskultur. Auch diese sind unbewusst und bilden mit den Werten einen großen Teil der „Programmierung des Geistes“ eines Unternehmens, wie es Hofstede formuliert hat. Dabei kommt den Glaubenssätzen eine besondere Bedeutung zu. Wenn beispielsweise in einem Unternehmen der Wert „Vertrauen“ eine große Rolle spielt, und gleichzeitig die langjährige Überzeugung aus früheren Lernerfahrungen vorherrscht, man könne hier niemanden vertrauen, dann kann auch kein Vertrauen im Unternehmen wachsen, obwohl der Wert als Sehnsuchtswert ausgeprägt vorhanden ist und sich sogar in Leitbildern wiederfinden könnte.
Im Konzept der logischen Ebenen nach Dilts und Bateson sind daher die Werte und die Überzeugungen in einer zentralen und unbewussten Ebene angeordnet. Auf einer noch höheren Ebene und damit tiefer im (kollektiven) Unterbewusstsein finden sich die Identität und der tiefe Sinn (wofür sind wir da?). Auf einer tieferen Ebene und eher wahrnehmbar und bewusst sind die Fähigkeiten und Fertigkeiten und das Verhalten der Menschen, mit denen letztlich Resultate im Umfeld erzeugt werden. Das Konzept der logischen Ebenen ist sowohl für einzelne Individuen als auch für komplexe Unternehmenssysteme anwendbar (Quelle: Drauschke, Pia; Drauschke, Stefan; Albrecht, Detlev Michael (Hg.) (2016): Changemanagement und Führung im Gesundheitswesen. Führung von Menschen und Management von Prozessen in der Veränderung. Kapitel 1.4, Heidelberg: medhochzwei) und dient uns meist als Leitfaden für Cultural Change-Prozesse.
Die Ebenen beeinflussen sich hierarchisch von oben nach unten und echte Änderungen in der Kultur werden Sie nur bewirken, wenn Sie auf allen Ebenen abgestimmt und systematisch vorgehen. Wenn Werte also so bedeutsam sind, dann lohnt es sich offenbar, sich damit – nicht nur im Einzelcoaching – etwas intensiver zu beschäftigen. Wir haben im Jahr 2018/2019 ein zunächst reines Werteprojekt in einem größeren Krankenhausunternehmen mit mehreren Standorten durchgeführt, von dem wir gerne exemplarisch berichten möchten:
Zunächst stellten sich folgende Fragen für ein sinnvolles Projektdesign im Kontext von Wertearbeit:
- Welchen Nutzen haben Werte, wie lassen wir den Mitarbeitern den Nutzen erkennen?
- Wie wollen wir die Kernwerte ermitteln, wie viel Partizipation wollen wir ermöglichen?
- Wie wollen wir die erarbeiteten, expliziten Werte im Unternehmen weiter verankern?
- Wie sorgen wir dafür, dass die Werte sich in allen wesentlichen Bereichen wiederspiegeln (Strategie, Marke etc.)?
- Wann und wo wollen wir erkennen, dass diese Werte bei der Arbeit im Unternehmen deutlich werden und berücksichtigt werden?
- Wie gehen wir mit der ebenso wichtigen Ebene der Glaubensätze/Beliefs um?
Neben der partizipativen Arbeit mit unserem systemischen Vierschichtenmodell K1-K4 und der Einbeziehung von über 260 Führungskräften in zwei eintägigen Großgruppenkonferenzen war die Arbeit mit dem Glaubenspolaritätenschema für uns ein wichtiges Instrument, um Werte und Wertekriterien zu ermitteln. Das Schema basiert auf den religionsphilosophischen Arbeiten von Frithjof Schuon (Schweizer Metaphysiker und Religionsphilosoph, 1907-1998). Der Ansatz systematisiert verschiedene Grundaspekte unterschiedlicher Philosophien und Religionen und kommt im Ergebnis zu drei Polen, die gleichwertig und abhängig voneinander sind: Der Erkenntnis-, der Ordnungs- und der Vertrauenspol. Werte lassen sich letztlich ziemlich klar je einem der drei Pole zuordnen. Im Ergebnis ist es wichtig, dass alle drei Pole bei den Unternehmenswerten ausgeprägt sind, denn sie bedingen sich einander alle drei, und einer ohne den anderen führt zu nichts Gutem. Nach wenigen Monaten Projektdauer und einem top-down-bottom-up Prozess konnten mit hohem Einverständnis 7 TOP-Werte und entsprechende Anti-Werte mit klaren Kriterien herausgearbeitet werden. Basierend auf einer Open Space Konferenz haben wir ein Umsetzungsprogramm zur weiteren Wertearbeit mit 5 Handlungsfeldern und priorisierten Maßnahmen aufgesetzt, das sich jetzt in der Bearbeitung befindet.
Doch zu guter Letzt bleibt die Frage, wofür das Ganze gut sein soll. Wie oben beschrieben sind Werte der Wertekern des Unternehmens, wenn man sie entsprechend bewusst werden lässt, würdigt und lebt. Gerade in der unsicheren und volatilen Welt von heute mit der Agilität in aller Munde sind Werte die Basis, auf der man gemeinsam stehen kann und Halt findet – und die alle Menschen im Unternehmen verlässlich verbindet, die diese Werte teilen. Werte sind der Kern von Identität und Führung, sie sind Kraft- und Sinnquellen – allerdings nur, wenn man sie lebt!
Berlin im März 2019
Pia Drauschke und Stefan Drauschke