Glauben Sie auch, dass Sie Ihre Umgebung oder Situationen so wahrnehmen, wie sie „wirklich“ sind? Wir beginnen heute mit einer Parabel des Autors David Foster Wallace (Das hier ist Wasser | Litlog (uni-goettingen.de), die zu diesem Thema passt:
Zwei Fische schwimmen im Ozean, als sie einem anderen Fisch begegnen. „Morgen, Jungs”, begrüßt der eine die beiden, „wie ist heute so das Wasser?”
Die beiden heben die Flossen und grüßen stumm zurück. Sie schwimmen eine Weile weiter, dann sagt der eine zum anderen: „Du, sag mal, was zum Teufel ist Wasser?”
Wir leben zwar nicht im Wasser, aber in einer uns alle umgebenden Wirklichkeit, von der viele denken, dass diese selbstverständlich so ist, wie sie sie gerade erleben.
Uns alle umgibt natürlich in der Regel Luft und meistens nicht Wasser, während wir unsere Umgebung „für wahr nehmen“ mit unseren fünf Sinnen Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen. Dabei glauben wir, dass das, was unser Gehirn daraus macht, die sogenannte Wirklichkeit ist!?
Abb. 1: Das Modell der Für-Wahrnehmung (Quelle: eigene Darstellung)
Vieles, was wir täglich erleben, ist für uns so selbstverständlich geworden, dass wir es gar nicht mehr hinterfragen, weil wir glauben, dass es tatsächlich so oder so ist. Wir erzeugen zwar nicht unser Leben selbst, aber im Wesentlichen unser Erleben (Gunther Schmidt). Haben Sie schon einmal gehört, dass nach einem Unfall drei Zeugen unter Eid drei ganz verschiedene Versionen vom Geschehen wiedergeben?
Lassen Sie uns doch einmal nachvollziehen, wie beispielsweise Lichtwellen eines äußeren visuellen Geschehens von Ihnen und dem Organ zwischen Ihren Ohren verarbeitet werden: Das Licht trifft auf Ihr Auge und dort auf Ihre Netzhaut mit Sinneszellen. Hier werden durch das Licht in den Stäbchen und Zäpfchen chemische Prozesse eingeleitet, die Strom erzeugen, der im Axon der Nervenzelle bis zur nächsten Synapse fließt. Dort werden Neurotransmitter – chemische Botenstoffe – freigesetzt, die über den synaptischen Spalt diffundieren und auf der anderen Seite bei der nächsten Nervenzelle wieder einen Strom auslösen. So geht es durch verschiedene Hirnareale nach einer Kreuzung der Sehbahnen, während unbewusst munter sortiert, kontrastiert und gefärbt wird, bis dann der Reiz endlich in Ihrem Großhirn in der Okzipitalrinde anlandet, in der dann ein Bild elektrisch entsteht, das Sie für wirklich halten. Ihr Gehirn erzeugt Ihre visuelle „Wirklichkeit“, die Sie dann „sehen“ und für wahr halten. Was meinen Sie, wie andere Lebewesen mit anderen Augen (z.B. Facettenaugen) dieselbe Wirklichkeit komplett anders wahrnehmen? Diese Erkenntnisse sind der Kerngedanke des schon viel älteren Konzeptes des sogenannten „radikalen Konstruktivismus“, nach der Wirklichkeit immer nur im Auge des Betrachters entsteht und stets subjektiv bleibt. Die bekannte Matrix-Filmtrilogie hat diese philosophische Denkrichtung seinerzeit bildgewaltig aufgegriffen. Dieser Gedanke liegt auch der systemischen Vorgehensweise zu Grunde, wenn es darum geht, gemeinsam mit Gruppen anschlussfähige Zukunftskonstrukte zu entwickeln beispielsweise im Sinne einer Strategie mit klaren Zielen oder von „Guter Führung“.
Es ist auf Grund des beschriebenen Beispiels gut zu verstehen, dass „Ihre Wirklichkeit“ durch Ihr Gehirn als „autopoetisches Organ“ Tag für Tag und in jedem Moment erzeugt wird. Ebenso schlüssig ist abzuleiten, dass die subjektiven Wirklichkeiten verschiedener Individuen sehr unterschiedlich sein können, weil die physikalischen Reize von außen durch die eigenen Sinne und Filter wie Kontext, Stimmung, Werte, Interessen, Glaubenssätze etc. stark verändert und verarbeitet werden, bevor sie vom Individuum „für wahr“ gehalten werden. Auch hat jeder von uns blinde Flecken, die sich der eigenen Wahrnehmung ganz und gar entziehen.
Daraus lassen sich zwei wesentliche Schlussfolgerungen ableiten. Erstens: Wenn die eigene Lebenswirklichkeit konstruiert ist, dann besteht auch die Möglichkeit, darin enthaltene Probleme selbst wieder zu „dekonstruieren“. Zweitens: Wenn man verstanden hat, dass man in seiner „selbstkonstruierten“ Welt lebt und die eigene Wirklichkeit subjektiv ist, dann erkennt man, dass Lösungen häufig durch einen bewussten Perspektivwechsel und den damit verbundenen Erkenntnisgewinn zu erreichen sind.
Wenden wir uns dem ersten Punkt zu, nämlich der Konstruktion und Dekonstruktion von Problemen im eigenen Kopf. Wie oft erleben wir, dass Konflikte entstehen, weil bestimmte festgefahrene Erwartungen nicht erfüllt werden und daraus Probleme erwachsen. Ein Beispiel könnte sein, dass Sie einige in „Ihrer Welt“ wichtige Emails mit für Sie bedeutenden Anliegen an wesentliche Handlungspartner:innen geschrieben haben, und diese nicht oder nicht in der angemessenen Zeit antworten. Schnell wächst der Groll, dass die Reaktionen ausgeblieben sind oder Selbstzweifel entstehen, dass die anderen vielleicht mit Ihnen nichts zu tun haben wollen oder dass denen gleichgültig ist, was Ihr Anliegen war. Vielleicht kommt gerade durch diese Selbstzweifel eine negative Gedankenspirale in Gang. Sie werden anderen gegenüber misstrauisch und skeptisch und erwarten oft schon gar nicht mehr, dass man adäquat auf Sie reagiert. Und siehe da, während so manche Antwort durchaus zeitnah gegeben wird, gibt es wieder einige Kandidaten, die nicht oder sehr verspätet oder erst auf Nachfrage reagieren. Da eigene Überzeugungen sich immer bewahrheiten wollen, nehmen Sie dazu Passendes selektiv wahr und Ihr Glaubenssatz, dass man Sie vielleicht nicht mehr so richtig für voll nimmt oder nicht wertschätzt, der wird bestärkt – und alles wird immer schlimmer. Dazu passt die Kernthese von Robert Anton Wilson: Was der Denker (in Ihrem Kopf) denkt, will Ihr Beweisführer (in Ihrem Kopf) beweisen (Der neue Prometheus, Robert Anton Wilson, ISBN-13 : 978-3720524346).
Dieser Negativspirale entkommen Sie ziemlich einfach, wenn Sie sich stets das Prinzip vergegenwärtigen, dass nicht entscheidend ist, was Sie wahrnehmen, sondern wie Sie es wahrnehmen. Und wenn Sie sich jetzt noch darüber im Klaren sind, dass die Kontrolle darüber, wie Sie etwas wahrnehmen (im Sinne von Bewerten, Interpretieren, Bedeutung zuweisen etc.) bei Ihnen selbst liegt, dann kommen Sie der Möglichkeit der Dekonstruktion von Problemen auf Grund von problematisch empfundenen Wahrnehmungen schon deutlich näher. Vielleicht waren Ihre Emailpartner:innen selbst überlastet, oder im Urlaub, oder krank, und die Nicht-Reaktion hatte mit Ihnen überhaupt gar nichts zu tun? Solche Erkenntnisse würden die Bedeutung der nicht zeitnah erfolgten Reaktion für Sie sofort verändern und so manches sogenannte „Problem“ löst sich einfach auf.
Die sich selbst erfüllende Prophezeiung hat bei wenig reflektierten Menschen noch andere Risiken und Nebenwirkungen. Manche sind so in ihrer Welt verhaftet, dass sie sich auch medial nur noch mit den Informationen versorgen, die zu ihrem Weltbild und ihren starren Haltungen passen und diese immer weiter verstärken. Diese Menschen haben keine Meinung, sie sind zu ihrer Meinung höchstpersönlich geworden! Und immer wieder finden sich gut ins Bild passende Beweise, dass dies alles tatsächlich so und nicht anders ist. Alles lässt sich auf diese Weise gut erklären und zu einer spannenden und scheinbar stimmigen Geschichte verweben, wenn der Glaube an krude Verschwörungstheorien Wissen und Fakten ersetzt oder sogar „alternative Fakten“ als Beweise herangezogen werden. Das war doch auch schon früher so mit dem Klapperstorch und den Babys …, oder nicht?
Doch zurück zum beruflichen Kontext.
Gerade in Konfliktsituationen ist ein Perspektivwechsel häufig heilsam. Wenn jeder „in seiner Welt“ lebt und daraus ableitet, Recht zu haben, dann fällt es schwer, Lösungen zu entwickeln, die vielleicht beiden Konfliktpartnern gerecht werden.
Doch ein Perspektivenwechsel passiert nie zufällig, wir müssen die neuen Perspektiven aktiv suchen und einnehmen wollen. Stellen Sie sich die Frage, wie die/der andere eine Situation wahrgenommen haben könnte anders als Sie selbst, welches Interesse und welche vielleicht im Kern gute Absicht die/der andere mit ihrem/seinem Handeln verfolgt haben könnte. Hinterfragen Sie, warum die/der andere so denkt, fragen Sie sich, ob sie/er vielleicht daneben liegen könnte, oder ob Sie selbst daneben liegen, oder ob Sie sich vielleicht beide irren und besser noch einmal über alles nachdenken? Im Ergebnis entstehen häufig neue Sichtweisen und Erkenntnisse und nicht zuletzt mehr Verständnis, was eine Grundlage wäre, neue Lösungen zu entwickeln, die sogar den Interessen beider gerecht werden.
Zusammengefasst lässt es vielleicht ein wenig Ihre Demut wachsen, wenn Sie erkannt haben, dass Ihre Wirklichkeit nicht die einzig wahre ist und dass es auch andere Menschen mit anderen Wirklichkeiten gibt, die dieselbe Daseinsberechtigung haben wie die Ihre. Und während die Gesprächspartner:innen in ihren unterschiedlichen Welten leben, gilt das Hauptinteresse der Frage, wo genügend Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte zu finden sind, um an der gleichen Sache konstruktiv zu arbeiten. Und das Wichtigste ist: Nehmen Sie sich selbst nicht allzu ernst, während Sie gleichzeitig stets engagiert Ihre Lebensziele verfolgen.
Pia Drauschke und Stefan Drauschke
Im Januar 2024