Fach- und Führungskarriere

Der NextHealth Change-Brief Nr. 12

Sind Fach- und Führungskarriere zu trennen?

Früher hatten gute Mitarbeiter Arbeitsplätze mit Karrierechancen in guten Unternehmen gesucht, heute hat sich das Verhältnis eher umgekehrt. Unternehmen suchen aktuell eher nach guten Mitarbeitern und möchten diesen interessante Karrieremöglichkeiten bieten als ein Bestandteil expliziter Arbeitgeberattraktivität. Nun ist Karriere nicht gleich Karriere, wenn man heute mit Personalabteilungen auch in Krankenhäusern spricht, dann scheint sich mehr und mehr die Meinung durchzusetzen, dass es horizontale und vertikale Karrierepfade geben sollte, die eher fachlich orientiert sind oder eher mit Führung und Hierarchie zu tun haben. Das klingt im ersten Beritt gut, weil nicht alle Menschen gleiche Talente und Interessen haben, doch der Ansatz enthält auch Gefahren und basiert teilweise auf Annahmen, die in der modernen und durchlässigen Arbeitswelt in Sackgassen führen könnten. Lassen Sie uns also den Ansatz getrennter Karrierepfade kritisch hinterfragen und die Annahmen aufspüren, die hinter dem Konzept stehen.

Annahme 1: Führungskompetenz ist eine Begabung? 

Sicher gibt es Menschen, die Talent dafür haben, andere zu begeistern oder von Natur aus gute Kommunikatoren sind. Wenn es stimmt, dass Führung von Menschen im Kern mit wirksamer Kommunikation zu tun hat, wären das gute Voraussetzungen. Doch an sich ist Führungskraft zu sein nur eine Rolle, die mit entsprechendem Verhalten auszufüllen ist. Donald H. McGannon sagte treffend „leadership is an action, not a position“. Es geht also gar nicht um die Position im Organigramm, sondern um das wirksame Tun mit der richtigen Einstellung und dem adäquaten Verhalten. Wir haben in verschiedenen Führungskulturprojekten mit intensiver Beteiligung der Führungskräfte und der geführt werdenden Mitarbeiter herausfinden können, dass gute Führung vor allem durch eine Reihe von Verhaltensweisen definiert wird, die sich im Kern in verschiedenen Organisationen ähneln. Hierzu gehören vor allem Sinn vermitteln, Ziele setzen, Entscheidungen treffen, mit der Organisation und anderen Menschen verbinden sowie wertschätzend kommunizieren, während es je nach Unternehmenskultur individuelle weitere Aspekte guter Führung gibt. Um dieses Verhalten ausprägen zu können, werden entsprechende Kompetenzen im Sinne von „Können“  benötigt, die wir auf der Grundlage der Projekterfahrungen in einem übersichtlichen Kompetenzmodell abbilden. Die für gute Führung vielleicht wichtigsten 50 bis 60 denkbaren Kernkompetenzen lassen sich in drei Kompetenzfelder sortieren, nämlich Individualkompetenz (Selbstführung – mit Kernkompetenzen wie Introspektion, Reflexion etc.), Sozialkompetenz (Andere führen – mit Kernkompetenzen wie Gesprächsführung, Konfliktmanagement etc.) und Fach- und Methodenkompetenz (mit Kernkompetenzen wie Change, Strategie, BWL, Personalwesen etc.).


Abbildung: Das von NextHealth verwendete Kompetenzmodell für „Gute Führung“ 

Unternehmensspezifisch sind je Kompetenzfeld 6-10 Kernkompetenzen in einem individuell entwickelten Kompetenzmodell wesentlich, die Menschen mit Führungsaufgaben gezielt trainieren können. Da vor dem Können das Wollen liegt, ist die entsprechende Haltung für den Entwicklungserfolg wesentlich, und zwar deutlich wesentlicher als die Begabung.

Annahme 2: Führungskräfte brauchen keine Fachkompetenz?

Es gibt verschiedene Beispiele, wo vollkommen branchenfremde Führungskräfte erfolgreich Unternehmen wie Krankenhäuser geführt haben. Das ist in einzelnen Fällen gut gegangen, wo die Fachlichkeit des vorherigen Jobs genügend Übertragungsmöglichkeiten auf die neue Aufgabe mit sich geführt und gleichzeitig die fehlende Betriebsblindheit neue Entwicklungsperspektiven geboten hat. Übereinstimmend wird allerdings berichtet, dass in den ersten 100 Tagen viel Zeit dafür aufzuwenden war, das neue Geschäft mit seinen Eigenheiten und Prozessen wirklich gut zu durchdringen. Es sind allerdings auch viele Beispiele bekannt, die mit Scheitern geendet haben.

Sich nur auf Moderieren „untergebener“ Fachkräfte und Netzwerken zurückzuziehen oder Fachkompetenz ausschließlich auf Experten in der Fachkarriere auszulagern, ist bei den heutigen Anforderungen der Umsetzung komplexer Ziele mit gemischten Teams sicher nicht ausreichend, ggf. sogar gefährlich. Wie sollen Ergebnisse beurteilt und Möglichkeiten ausgelotet oder fachliche Entscheidungen getroffen werden, wenn nicht auch eigene Fach- und Branchenkompetenz im Spiel ist? Es ist bequem, sich auf seinem Führungstalent oder antrainierten Führungskompetenzen auszuruhen und nicht auch beständig an seiner Fachlichkeit zu arbeiten. Auch die Mitarbeiter erwarten einen hinlänglich kompetenten und nicht nur eloquenten Chef. Die notwendige Tiefe der Fachkompetenz mag abnehmen, wenn die „Flughöhe“ ansteigt. Echtes Spezialistentum in mehreren Fachdisziplinen ist sicher nicht mehr möglich und auch nicht notwendig. Doch ohne Fachkompetenz wird es nicht gehen und ich würde jedem in einer Führungsposition raten, genügend Zeit in diese Art von Kompetenzentwicklung zu investieren.
 

Annahme 3: Fachexperten brauchen keine Führungskompetenz?

Wenn man berücksichtigt, dass Führung von Menschen nicht nur „vertikal“ im Unternehmen auf die „Untergebenen“ ausgerichtet ist, sondern oft auch lateral auf Kollegen oder gar vertikal nach oben im Sinne der Führung des eigenen Chefs, dann entfernt sich das Führungsthema immer weiter von dem vertikal beständig nach oben gerichteten Karrierepfad. Nachdem Führung immer auch mit Selbstführung zu tun hat und in der Regel die Arbeit in Teams erfolgt, deren Funktionieren sozialkompetente Teammitglieder voraussetzt, rate ich  auch den sog. Fachexperten, die sich durch tiefes Spezialwissen in einzelnen Gebieten auszeichnen, sich mit der Ausbildung von Führungskompetenzen zu befassen. Wie viele potentielle Führungskräfte würden den Unternehmen verloren gehen, wenn alle Fachexperten sich nur auf ihre Fachlichkeit zurückziehen würden. Noch schlimmer ist es, wenn gerade in Expertenorganisationen wie Krankenhäusern Fachleute wie Chefärzte oder Pflegedienstleitungen glaubten, dass allein wegen und mit ihrer Fachkompetenz eine Führungsrolle wirksam ausgefüllt werden könnte, ohne sich gezielt um ihre Führungskompetenzen kümmern zu müssen.

Nur in wenigen Ausnahmen besteht nicht der Anspruch Fach- und Führungskompetenz gleichermaßen auszuprägen. Beispielsweise stellen Softwarefirmen wie SAP gezielt Autisten als Mitarbeiter ein, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre ausgezeichneten und oft deutlich überhöhten Stärken in sehr engen Fachgebieten zum Einsatz zu bringen, während bestimmte führungsrelevante Individual- und Sozialkompetenzen außen vor bleiben können.

Annahme 4: Karriere führt nach „oben“ – oder „zur Seite“?
 

Heutzutage ist nicht mehr davon auszugehen, dass Karriere immer „nach oben“ führt, sondern es ist eher mit einer episodenartigen Entwicklung und Vorwärtsbewegung zu rechnen, die sich nicht dadurch auszeichnet, immer mehr Menschen im Organigramm „unter sich“ zu haben. Es geht also manchmal nach oben, und manchmal zur Seite. Oft wechselt sich der Aufstieg mit Phasen ab, wo andere Aufgaben zu lösen oder Projekte zu bearbeiten sind. Es gibt genügend Beispiele, wo der abhängigen Beschäftigung freiwillig oder unfreiwillig eine Selbständigkeit folgt, die sich durch „ständig selbst“ tun auszeichnet und unterschiedliche Fachkompetenzen voraussetzt. Manchmal gibt es nicht viele Möglichkeiten zu delegieren, oder die Durchlässigkeit der Teams und Ebenen im Unternehmen ist so hoch, die Führungsspanne so klein, dass neben reinen kommunikativ geprägten Führungsaufgaben viele Fachthemen selbst zu bearbeiten sind.  

So ist es empfehlenswert, im Verlauf seiner Karriere mal an seinem Fachwissen und mal an den Führungskompetenzen zu arbeiten und diese Dualität auch in den Studiengängen und Ausbildungen angemessen zu berücksichtigen. Fachkräfte sollen auch führen können und in der Lage sein, ihr Wissen anderen begeistert weiterzugeben, während Führungskräfte genug von der Fachmaterie verstehen müssen, in der sich ihre Organisation mit den zu führenden Menschen bewegt. Erfolg entsteht immer dann, wenn kompetente Menschen begeistert und gemeinsam attraktive Ziele verfolgen und erreichen.

Dr. Stefan Drauschke, 10.7.2013