Der Geschäftsführer eines im Wandel befindlichen Krankenhausunternehmens, das wir als Change-Coaches begleiten, sprach uns nach einem gelungenen Workshop auf unsere Art an, viele Inhalte und Botschaften in Geschichten und erzählte Erlebnisse zu verpacken. Ihm fiel auf, dass die auf diese Weise vermittelten Gedanken noch lange in den Führungskräften arbeiten und auf diese Weise Wirkung erzielen. Übrigens war auch in diesem Krankenhaus Corona ein menschlich und finanziell sehr belastendes Thema.
Wir sind weiter ins Gespräch gekommen und berichteten von unserem letzten Business-Retreat, an dem einmal wieder auch ein Arzt teilnahm, und – wie kann es anders sein – war auch Corona ein Abendthema beim Dinner. Wie so oft hörten wir davon, dass der Zustand in seinem Krankenhaus „wie im Krieg“ war im letzten Winter und dass es sich jetzt wieder genauso anbahnt. Viele Patienten liegen auf Intensivstationen, die Arbeit ist für alle Berufsgruppen sehr belastend und auch Kollegen aus dem ärztlichen Dienst und aus dem Pflegedienst sind schon sehr krank geworden, hatten lang andauernde Spätwirkungen oder sind sogar an Corona gestorben. Und jetzt steigen die Infektionszahlen wieder mehr als je zuvor.
Wenn die Zeiten wirklich schwierig sind und ein Ende kaum in Sicht ist, fällt uns die Geschichte vom Stockdale-Paradoxon ein, welches auch Jim Collins in seinem bekannten Buch „Der Weg der Besten“ (Quelle: Collins, Jim. Der Weg der Besten. 2001. München: Deutsche Verlags-Anstalt) beschrieben hat. Die damit verbundene Haltung hat er in sehr erfolgreichen Unternehmen regelmäßig angetroffen, weshalb sich auch der von uns begleitete Geschäftsführer dafür interessiert hat.
Es war in den sechziger Jahren, als in Vietnam ein ranghoher, amerikanischer Offizier, James Stockdale, von den Vietkongsoldaten gefangen genommen und in ein Kriegsgefangenenlager in Hanoi deportiert wurde. Er hatte acht lange Jahre Erniedrigung, Folter und sehr harte Lebensumstände durchzustehen und war mit elf anderen Mitgefangenen streng isoliert worden. Man berichtet, dass er Wochen in einer engen Holzkiste eingepfercht war, in der er weder stehen noch liegen konnte. Strenge Isolationshaft in winzigen Einzelzellen, das eigene Leid und das der Kameraden verbunden mit Aussichtslosigkeit führten zu großen körperlichen und seelischen Belastungen. Dennoch entsprach es seiner Natur, anzupacken und quasi als Leitwolf das Kommando über die gefangenen Kameraden im Lager – sie nannten sich die „Alcatraz-Gang“ – zu übernehmen. Entscheidend war die feste, innere Überzeugung von Stockdale, dass er es überstehen und zuletzt als Sieger dastehen würde. Andere machten sich Pseudo-Hoffnungen: Weihnachten bin ich zu Hause, Ostern sehe ich meine Familie, Neujahr komme ich hier raus …, und starben einer nach dem anderen unter den Qualen. Stockdale hingegen hat immer die Fakten wahrgenommen wie sie sind und seiner schlimmen Umgebung ungeschminkt ins Auge gesehen – und war gleichzeitig davon tief im Inneren überzeugt, dass er es am Ende schaffen würde. Das nach ihm benannte Stockdale-Paradoxon ist, den Glauben zu behalten, dass man am Ende siegt, egal, wie schwierig es wird – und sich gleichzeitig den brutalen Tatsachen der momentanen Situation zu stellen, egal, wie unerfreulich sie sind (Quelle: Drauschke, Stefan: Das Stockdale-Paradoxon. In: Erzählbar. Hans Heß (Hrsg.). 2011, S. 48-49. Bonn: managerSeminare Verlags GmbH, Edition Training aktuell). Diese Haltung ist ein Erfolgsfaktor für langanhaltenden Unternehmenserfolg, wie Collins nachweisen konnte.
Sie haben wahrscheinlich auch schon die Erfahrung machen können, dass Lerninhalte, die in Geschichten verpackt sind, besser im Gedächtnis haften als nur inhaltlich trocken Vermitteltes. Es ist schon bemerkenswert, dass sich TeilnehmerInnen von unseren Trainings oder dem Business-Retreat teilweise noch nach Jahren an dort von uns „eingesetzte“ Geschichten erinnern, während sie sich an formale Lerninhalte nur noch ungefähr erinnern können.
Kein Wunder also, dass auch TOP-Unternehmen wie Adidas, Bayer, Beiersdorf, Henkel oder Telekom beispielsweise beim Recruiting gezielt und intensiv mit Storytelling arbeiten (Quelle: Storytelling-Ranking 2019: So werben die DAX 30 um Talente. HRM Institute, 2021. Online: Storytelling-Ranking 2019: So werben die DAX 30 um Talente – Digital Recruiter Manger:in (digital-recruiter.com), aufgerufen am 16.11.21). Das Erzählen von lebendigen Geschichten bindet die Zuhörenden mit ihren eigenen Gedanken ein und engagiert sie oft auch emotional durch Identifikation mit Figuren aus den Geschichten oder dem Erzähler selbst und dem Nachempfinden der Dramaturgie und des Spannungsbogens. Storytelling umgeht auf diese Weise auch elegant die sogenannte Lernangst, die häufig beim Erleben eigener Inkompetenz im Zusammenhang mit neuen Lerninhalten auftritt. Das so vermittelte Wissen wird besser verstanden und angenommen und man merkt sich eine Geschichte und die damit erzeugten Bilder oft leichter – und länger.
Eine klassische Dramaturgie für Geschichten hat Joseph Campbell identifiziert. Sein Werk „Der Heros in tausend Gestalten“ (Quelle: Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. 2011. Berlin: Insel Verlag) ist ein bahnbrechender Klassiker der Mythenforschung und Standardlektüre erfolgreicher Filmemacher. Joseph Campbell hat in Sagen, Märchen und Religionen universelle Muster und Grundtypen von Helden entdeckt, die sich weltweit in allen Kulturen wiederfinden. Eine bestimmte Situation ist immer die Ausgangslage, in der jemand als Held aufbricht, einer Mission oder einem Traum zu folgen. Ihm begegnen dann Konflikte, Ohnmacht und Hindernisse, denen er mit Einfällen und Ressourcen begegnet, um Lösungen zu finden. Am Ende steht dann der „Sieg“ und das Feiern der Überwindung der Herausforderung.
Die Zuhörenden von gut erzählten Geschichten probieren, den Handlungsablauf, den Sinn (die Metapher) zu erfassen und die darin enthaltene Weisheit zu verstehen. Beim Zuhören gelangen Menschen oft in einen entspannten Zustand, in dem sie Inhalte noch tiefer aufnehmen können. Meist wirkt die Geschichte im Unbewussten weiter, und Erkenntnisse reifen noch lange nach. Der Anspruch an einen professionell „Erzählenden“ ist allerdings hoch, neben dem sprachlich Vermittelten an sich kommen weitere persönliche Ausdrucksmittel wie Gestik, Mimik und die Stimme mit ihrer Tonalität, der Sprachmelodie und dem Tempowechsel zum Einsatz. Die dadurch erzeugte semantische Dichte ist das, was eine Geschichte bedeutsam, wirksam und lehrreich macht. Eine Steigerung in der Struktur besteht in der absichtlichen Verschachtelung von Geschichten jeweils kurz vor dem dramaturgischen Höhepunkt, um diese „Loops“ dann später nach und nach wieder zu schließen.
Der Geschäftsführer fragte uns schließlich, wo man brauchbare Geschichten finden kann, auch wenn man noch nicht so viel Übung im Storytelling hat. Wir empfahlen ihm die beiden Sammelbände „Erzählbar I und II“ (Quelle: Heß, Hans (Hrsg.): Erzählbar. 2011. Bonn: managerSeminare Verlags GmbH, Edition Training aktuell und Erzählbar II. 2017.). Hier finden Sie auch das schon erwähnte Stockdale-Paradoxon in unserer Interpretation (Erzählbar, S. 48-49) sowie unsere Geschichte „Der Mond und das Meer“ (Drauschke, Pia und Drauschke, Stefan: Der Mond und das Meer. In: Erzählbar II. Hans Heß (Hrsg.). 2017: S.80-81. Bonn: managerSeminare Verlags GmbH, Edition Training aktuell), in der es um einen Segeltörn bis in die Nacht von La Gomera nach Gran Canaria geht, die eine schöne Metapher ist für den Nutzen von klaren Zielen und Strategien in „schwerem Fahrwasser“.
Probieren auch Sie einmal, im Unternehmenskontext Geschichten zu erzählen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Lebenserfahrungen zu vermitteln, Wissen weiterzugeben, Problemlösungen aufzuzeigen, Denkprozesse einzuleiten, Verhalten zu ändern oder zum Handeln zu motivieren. Manchmal können Sie mit Geschichten auch Hoffnung stiften und Sinn geben, was in diesen noch immer besonderen Zeiten oft von ganz besonderer Bedeutung sein kann.
Pia Drauschke und Stefan Drauschke, Berlin im November 2021