20 Jahre Führung im Krankenhaus – ein Erfahrungsbericht (Changebrief 98)

Vieles hat sich in Bezug auf Führung in den letzten 20 Jahren geändert, und wir wollen diesen Änderungen einmal auf den Grund gehen. Zunächst möchten wir noch einmal die beiden Begriffe „Führung“ und „Management“ differenzieren. Man führt Menschen, und managed Systeme wie ein Qualitätsmanagement-, Kennzahlen- oder Erfolgsvergütungskonzept. Natürlich hat eine Führungskraft oder ein/e ManagerIn beide Aufgaben, doch es lohnt sich, diese im Kern auseinander zu halten. Man kann nämlich Menschen nicht managen!

Früher galt, dass man fachlich kompetent sein muss, und dann wurde man Führungskraft. Führung ist dann eher nur ein Nachgedanke. Der beste Zahlenknecht wurde Controllingchef, der beste Vertriebsmitarbeiter Vertriebsleiter etc.  Gerade bei ärztlichen Führungskräften war dieses Phänomen oft zu beobachten. Der beste und durchsetzungsfähigste ärztliche Fachexperte wurde Chefarzt.  Was man zu Führung brauchte, würde man sich schon irgendwie zulegen.  Wenn man bedenkt, dass eine mittelgroße Klinik vom Umsatz her mit einem mittelständischen Unternehmen zu vergleichen ist, dann wundert es nicht, wenn sich der Erfolg manchmal nicht so einstellt wie gewünscht. Führung ist eine eigene Profession und damit der Gegenpol zum „Nebenbei“, hat Prof. Heinz Stahl in einem Beitrag der ÖKZ (05/2022 63. Jahrgang Seite 32-33) geschrieben.

Wir haben anlässlich der Jubiläumsausgabe Führungskräfte aus Krankenhäusern befragt, wie sie Änderungen in der Führung über die Jahre wahrgenommen haben. So äußert sich Herr Sebastian Lehotzki, Geschäftsführer des Klinikums Aschaffenburg-Alzenau, dass mehr Freiraum für die Mitarbeitenden mitnichten mehr Freiraum für die Führungskräfte bedeutet. Weiterhin wandelte sich der Arbeitgebermarkt hin zu einem Arbeitnehmermarkt, was die Führungskräfte zum Umdenken zwingt. Früher verließen Mitarbeitende ihren Arbeitgeber, heute verlassen Mitarbeitende ihre Führungskraft. Lehotzki meint, es sei wesentlich, die Führungskräfte zu befähigen, dass die Mitarbeitenden auch zukünftig den Wunsch haben, zu bleiben und dies als stark ausgeprägtes Gefühl erleben.

Herr Marcus Wortmann, CIO der MHH, äußert zu Führung Folgendes: „Führung im Krankhaus Anfang des Jahrtausends fand in der Regel innerhalb der eigenen organisatorischen Insel in hierarchisch geprägten Strukturen statt. Die Grenzen der eigenen Abteilung boten ausreichend Abgrenzung und Sicherheit. Vernetztes Denken und Agieren in übergreifenden, auch wechselnden Teams, konnte sich durch Projektarbeit erst langsam entwickeln. Vor dem Hintergrund der wachsenden Komplexität und der Verflechtung von Arbeitsprozessen über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg geht es heute viel mehr darum, eine für Alle handhabbare Arbeitsumgebung zu schaffen. Das heißt, die Komplexität stabil bewältigen zu können und permanente Veränderungen bereits einzuplanen. Das gelingt m.E. am besten über ein Führungsmodell, das sich an Personen richtet und Beteilung einfordert. 

Führung besteht für mich heute mehr denn je in der Dialektik aus der Verantwortung für den eigenen Beitrag als auch aus der für das Gelingen des Ganzen. Partizipation und Mitverantwortung vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels schafft eine attraktive Grundlage für erfolgreiche Zusammenarbeit, in der jede und jeder sich wiederfinden kann.“

Herr Andreas Epple, Führungskraft bei der Planungsgesellschaft des Landkreises Aurich, schreibt uns zu Führung folgendes: Gute Führung entwickelt sich immer weiter, weil nur so adäquat auf die sich verändernden Rahmenbedingungen reagiert werden kann. Durch den demographischen Wandel sind die Beschäftigten zum wichtigsten Erfolgsfaktor geworden. Wertschätzung und Vertrauen sind die Basis für erfolgreiche Führung, um die Mitarbeitenden für das eigene Haus zu sichern und zu binden. Neben klassischen Führungsqualitäten bei Führungskräften kommt der emotionalen Intelligenz eine immer größer werdende Rolle zu. Wenn Führung es schafft, eine Vertrauensbasis im Miteinander zu schaffen, kann die Kultur der Verantwortung und des Erfolges in einem Unternehmen verankert werden.

Da der Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der Praxis größer ist als in der Theorie, sind wir selbst neben der Beratung und systemischen Prozessbegleitung auch als Geschäftsleitung unserer ViVental GmbH mit über 50 beschäftigten Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten sowie Anmelde- und Backofficekräften an vier Gesundheitszentren in Berlin tätig. Wir konnten über die Jahre Folgendes wahrnehmen: Der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, ist bei jungen Mitarbeitenden häufig wenig ausgeprägt (Ausnahmen bestätigen zum Glück die Regel) und man will oft nicht wirklich Führungskraft werden mit aller Verpflichtung und dem notwendigen zusätzlichen Einsatz. Man ist saturiert und Life Balance und Freizeit spielen eine große Rolle. Wenn man als Leitung allerdings Partizipation zulässt und die Menschen ehrlich einbindet in Entscheidungsprozesse, dann weckt das häufig das Sinnerleben, steigert die Selbstwirksamkeitserwartung und die Motivation sowie die Leistungsbereitschaft. Die Menschen wollen wertschätzend behandelt werden, ein Befehlston ist „out“! Die Bindung der Mitarbeitenden zum Unternehmen und zum Standort sind oft weniger ausgeprägt und die eigene Entwicklung steht im Vordergrund. Wenn es opportun erscheint und Vorteile bringt, dann wird auch für wenig mehr schon mal gewechselt. Wenn man vorher Zeit und Herzblut in die Entwicklung solcher Mitarbeitenden investiert hat, dann ist das schon enttäuschend.

Wesentliche Treiber zur Veränderung von Führung über die letzten 20 Jahre waren die weitgehende Saturierung der jüngeren Generationen in ihren Grundbedürfnissen mit der Folge, vorrangig sich selbst verwirklichen zu wollen, die fortschreitende Digitalisierung und dann noch die Corona-Situation in den letzten Jahren. Dazu gesellt sich noch die oft zitierte „VUKA Welt“ (volatil, unsicher, komplex und ambigue) mit schnellen und unerwarteten Änderungen. Wer hätte gedacht, dass der Brexit wirklich stattfindet, oder dass jemand wie Trump Präsident wurde, eine Seuche wie Corona weltweit und jahrelang um sich greift und Putin die Ukraine tatsächlich angreift?

Mit allen diesen Änderungen und der damit verbundenen und notwendigen Flexibilität ist der geflügelte Begriff „New Work“ entstanden mit einer breiten Begeisterung für die Vorteile und Potenziale: Eine Arbeitswelt ohne Hierarchien, mit sich selbst organisierten Teams, mit demokratisch gewählten Geschäftsführungen und der freien Wahl des Arbeitsortes (Office, Homeoffice, Worcation = Urlaub und Arbeit verbunden). Anstelle von Macht „von oben“ tritt die intrinsische Motivation, justiert durch Gruppen-Feedback und Marktanforderungen, ein. Doch sind die Risiken auch zu benennen. Das Teamgefühl geht bei Remote-Arbeitsplätzen weitgehend verloren, wie herausfordernd bis unmöglich ist es, Beziehungen zu Mitarbeitenden aufzubauen, die man noch nie oder selten „live“ gesehen hat. Nicht alle Arbeitsplätze eignen sich dafür, insbesondere in Krankenhäusern. Orientierungslosigkeit kann auftreten, Konflikte kommen nicht mehr zeitnah zur Lösung. Instabilität ist der Preis von Flexibilität, stabil ist nur die ständige Veränderung. Und schließlich bleibt festzuhalten, dass dann, wenn Führungskräfte die volle Verantwortung für ihren Bereich tragen, diese auch letztlich Weisungsbefugnisse benötigen.

Der Tesla Chef Elon Musk hat sich medienwirksam zum Homeoffice geäußert. Er schrieb seinen Mitarbeitenden per Mail, dass dann, wenn diese nicht mindestens 40 Stunden pro Woche im Büro verbringen, er davon ausgeht, dass sie das Unternehmen verlassen würden. Das ist schon „krass“ und viele New Work Experten haben sich über das Schreiben und diese Art „von oben herab“ echauffiert. Auf den zweiten Blick aber erkennt man, dass der radikale Ansatz von Musk die absolut richtige Lösung für ein so radikales Unternehmen wie Tesla ist. Musk hat verstanden, dass der sukzessive Abbau der Corona-Maßnahmen nicht mit einer sukzessiven Rückkehr ins Büro einherging.

Das können wir bestätigen. Viele Arbeitnehmer haben das Homeoffice für sich entdeckt und haben wenig Verständnis dafür, noch regelmäßig ins Büro zu kommen.

Doch der Mythos von New Work ist noch auf andere Weise zu entzaubern, wie Frau Dr. Gudrun Töpfer ausführte (Management Seminare Heft 288 März 2022 Seite 14-15). Menschen mit Respekt, Achtung, Wertschätzung zu begegnen und Freiheiten einzuräumen ist schon Jahrzehnte alt. Douglas Mc. Gregor hatte bereits 1960 die so agierende Y-Typ Führungskraft beschrieben bis hin zur transformationalen Führung, die ab 1980 von James Mc Gregor Burns und Bernhard Bass diskutiert wurde. Agiles Leadership haben Paul Hersey und Ken Blanchard 1969 mit dem Konzept des situativen Führens benannt. Remote Work hieß ab 1980 Telearbeit, auch wenn die Technik damals eine andere war als heute. Im ländlichen Raum gab es Nachbarschaftsbüros, was heute den Coworking-Spaces entspricht. 

Doch was macht denn nun „gute Führung“ heute in den 2020iger Jahren vor dem Hintergrund der Digitalisierung, der VUKA Welt und in den Arbeitsmarkt drängenden Millennials mit ihrer eher saturierten Sozialisation aus?

Wir meinen, dass die folgenden Items heute unbedingt zu guter Führung gehören und Sie damit in den allermeisten Fällen auch in Unternehmen wie Krankenhäusern „richtig“ liegen werden:

  • Vermitteln von Sinn, Werten, klaren Zielen
  • Entscheiden, Menschen miteinander und mit Aufgaben und Ressourcen verbinden und Klären von Meinungsverschiedenheit und Konflikten
  • Freie und offene Kommunikation und Kollaboration in vernetzten Teams pflegen mit einer ausgeprägten Feedback-Kultur
  • Ambidextrie zulassen, das „Sowohl als auch“ als Antwort auf die ambiguen Herausforderungen
  • Die Mitarbeitenden spürbar im digitalen Wandel und bei der generationenübergreifenden Kommunikation unterstützen
  • Agilität leben mit den Aspekten Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenzentriertheit und (agile) Haltung/Mindset

Den Begriff „Wertschätzung“ finden Sie in der Auflistung nicht explizit, denn sich so zu verhalten wie beschrieben ist der Ausdruck von Wertschätzung an sich.
Nun wünschen wir Ihnen viel Freude bei der Rekapitulation Ihrer eigenen Führungserfahrungen über die letzten Jahrzehnte und dem Erproben der benannten Items – und dass Sie selbst Führung mit ganzem Herzen als Profession erleben!

Pia Drauschke und Stefan Drauschke

Im Juni 2022