Agile Unternehmenskultur – auch im Krankenhaus? (1) (Changebrief 105)

Endlich „agil“ zu werden ist ein so oft gehörtes Schlagwort für Organisationen und Personen in den letzten Jahren, dass wir uns entschlossen haben, der ganzen Agilität einmal ein wenig auf den Grund zu gehen. Agile Unternehmenskultur ist ein Konzept, das in den letzten Jahren in der Geschäftswelt immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Es handelt sich dabei um eine Organisationsphilosophie und einen Ansatz zur Führung von Unternehmen, der darauf abzielt, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovation zu fördern vor dem Hintergrund sich immer stärker und schneller verändernder Unternehmensumwelten. Der Begriff VUKA-Welt ist Ihnen bestimmt auch schon einmal in diesem Zusammenhang begegnet (volatil-unsicher-komplex-ambigue) (Quelle: Drauschke & Drauschke, Führen im Wandel: „Agile Führung in der VUKA-Welt“. Kolumne in der Klinik Markt inside 22/2017 vom 20.11.17, 15. Jahrgang, ISSN 1613-0502, S. 08-10). In dieser ersten Kolumne zu diesem Thema werden wir erläutern, was agile Unternehmenskultur eigentlich ausmacht und in der nachfolgenden Kolumne fortsetzen, welche Bereiche im Krankenhaus dafür am ehesten geeignet sind, welche Methoden sich dort in erster Linie anbieten und wo die Grenzen agiler Unternehmenskultur beginnen, an die man bei der Umsetzung dieses Konzepts stoßen kann.

An sich gibt es agile Methoden schon sehr lange, auch wenn sie anders „gelabelt“ wurden. So liegt der Ursprung von KanBan beispielsweise in Japan, stammt aus den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts und ist eng mit der Automobilindustrie und der Toyota Motor Corporation verbunden. KanBan kommt aus dem japanischen und bedeutet eigentlich „Karte“ und beschreibt vereinfacht, wie ein Vorgang gemäß seinem Reifegrad wie eine Karte auf einem Board von einem Platz zum nächsten verschoben wird. Auch sehr bekannt ist die agile Projektmanagementmethode Scrum, die in den 1990er Jahren entwickelt wurde und auf den Prinzipien von Transparenz, Inspektion und regelmäßiger Anpassung basiert, wie dies insbesondere in der Softwareentwicklung notwendig ist. Die kurzen 2 bis 4wöchigen Entwicklungszyklen heißen hier „Sprints“ und lösen die langfristig geplanten Arbeitspakete und Meilensteine ab, wie sie im herkömmlichen Projektmanagement üblich sind und sich für die schnelllebige Softwareentwicklung einfach nicht eignen. KanBan und Scrum sind zwei unterschiedliche agile Methoden, die verwendet werden, um die Arbeit zu organisieren und zu steuern. Obwohl sie beide zur agilen Arbeitsweise gehören, sind sie eigenständige Ansätze. KanBan ist kein integraler Bestandteil von Scrum, kann jedoch sehr wohl für die bessere Steuerung der Arbeiten außerhalb der Sprints integriert werden, man spricht dann auch von „ScrumBan“. Mittlerweile haben solche agilen Methoden und Prinzipien Einzug in zahlreiche andere Branchen gefunden, und zwar von der Produktentwicklung über das Projektmanagement bis hin zum Marketing und der Unternehmensführung.

Die Grundlagen agiler Unternehmenskultur

Im Kern geht es bei agiler Unternehmenskultur darum, Hierarchien abzubauen, Entscheidungen zu dezentralisieren und Teams mehr Autonomie zu gewähren im Sinne von gelebter Subsidiarität. Sie bemerken sicher schon, dass dies heute noch in vielen Krankenhäusern mit einer eher hierarchisch geprägten Kultur kollidiert, in der „von oben“ und manchmal auch verhältnismäßig patriarchalisch regiert wird. Doch dies ändert sich im Laufe der von uns beobachteten Zeit, was sich auch in der gesteigerten Nachfrage nach echter Partizipation bemerkbar macht, die im Grunde auch eine Form von Agilität ist und echte Freiräume für Mitwirkung voraussetzt (Quelle: Drauschke & Drauschke, Erfolgsrezept Partizipation: „Wie Sie Mitwirkung im Unternehmen am besten gestalten“. Kolumne in der Klinik Markt inside 02/2023 vom 23.01.23, 21. Jahrgang, ISSN 1613-0502, S. 11-13) und nicht zuletzt von den nachrückenden jungen Führungskräften aller Berufsgruppen eingefordert wird. Zudem bewegen sich auch Krankenhäuser in einem volatilen Umfeld, das dazu auch noch stark politisch geprägt ist. Die Effekte der Coronapandemie mit nachhaltig geschrumpften stationären Patientenzahlen und immer mehr Ambulantisierung machen sich stark bemerkbar und belohnen diejenigen Häuser, die sich beweglicher an die Situation anpassen können als andere.

Eine dafür notwendige flexible und damit agile Unternehmenskultur ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Agile Organisationen sind in der Lage, sich schnell an sich ändernde Umfeldbedingungen anzupassen. Sie erkennen, dass Veränderungen unvermeidlich sind und passen ihre Strategien und Taktiken entsprechend an. Hierzu gehört auch eine ausgeprägte „Changeability“ der Mitarbeitenden im Unternehmen. Dies meint, dass Veränderung und der Umgang damit normaler Bestandteil der Kultur geworden ist und auch Wissen und Können im Hinblick auf Changemanagement weit verbreitet ist. Dies ist gezielt ausprägbar und förderbar – wenn man es seitens der Führung für wichtig erachtet.
Selbstorganisation: In agilen Unternehmen haben Teams eine hohe Autonomie und Selbstverantwortung in einem gegebenen und „von oben“ gesetzten strategischen Rahmen im Sinne von absoluter Zielorientierung und klaren Systemregeln. Es geht darum, schnellere und bessere Entscheidungen auf der Ebene treffen, die am besten dafür geeignet ist, ohne auf eine strenge Hierarchie angewiesen zu sein (Subsidiarität).
Iterative Entwicklung: Agile Methoden betonen die kontinuierliche Verbesserung und den Nutzen von regelmäßigen Rückmeldungen, um die Medizin und die Prozesse schrittweise zu optimieren. Eine ausgeprägte Feedbackkultur im Sinne von wertschätzendes und konstruktives Feedback geben und nehmen ist dabei ein wesentliches Element.
Kollaboration: Agile Organisationen fördern die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Abteilungen und Teams, und natürlich auch zwischen Berufsgruppen. Hier vereint sich ein kultureller Anspruch aus Sicht der Agilität mit dem aus der Digitalisierung. Denn auch diese fordert im Sinne der Interoperabilität und der abteilungs- und berufsgruppenübergreifenden Prozesse intensive Zusammenarbeit und transparente Kommunikation. Gelebte Partizipation ist ein wichtiges Instrument, um genau diese Kultur Schritt um Schritt zu fördern.

Nun ist Unternehmenskultur ein soziales Konstrukt, das wesentlich von den im System „programmierten“ Werten und Überzeugungen geprägt wird. In erfolgreichen agilen Organisationen sind bestimmte Werte besonders häufig anzutreffen, die für die einzelnen Mitglieder der Organisation maßgebliche Bedeutung haben. Einer davon ist Zielorientierung und Fokus. Es geht um die volle Konzentration auf die Arbeit im zugehörigen Team und die Fokussierung auf wirklich gute Teamergebnisse. Weitere wichtige Werte sind Mut und Courage, notwendige Risiken einzugehen, schwierige Entscheidungen zu treffen, Probleme zu klären und dabei echte Verbesserungen durchzuführen – und dabei immer besser werden zu wollen. Offenheit und Transparenz sind ebenso bedeutsam. Die Dinge sind, wie sie sind, Informationen werden digital verfügbar gemacht und untereinander geteilt, Know-how wird im Team übertragen. Commitment und Engagement spielen eine große Rolle bei der Umsetzung von Agilität, Teammitglieder verpflichten sich zu kompromissloser Zusammenarbeit. Das Team übernimmt die Verantwortung für die Arbeit und hält sich selbst verantwortlich für die Erzielung der Ergebnisse. Dabei spielt Respekt eine große Rolle. Die Teammitglieder respektieren wechselseitig Meinungen, Fähigkeiten und Expertise. Untereinander verdienen sich die Mitarbeitenden den Respekt, indem sie das Vertrauen, das man in sie gesetzt hat, gerne bestätigen.

Abbildung1: Die wichtigsten förderlichen Werthaltungen einer agilen Unternehmenskultur (Quelle: eigene Darstellung NextHealth)

Unbewusste Überzeugungen, die man auch als „Beliefs“ oder „Glaubenssätze“ bezeichnet, sind ebenso entscheidend für das Gelingen von Agilität und wurden schon frühzeitig im sogenannten „Agilen Manifest“ beschrieben (Quelle: Dr. Lindner, Dominic: „Was ist agil im Kontext von Unternehmen?“, unter https://agile-unternehmen.de/was-ist-agil-definition/, abgerufen am 19.09.23).
Die vier wichtigsten darin benannten Überzeugungen sind sinngemäß:

  1. Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge: Dies bedeutet, dass die Menschen und ihre Zusammenarbeit wichtiger sind als Prozesse und Tools. Agile Teams betonen die Kommunikation und die Interaktion zwischen den Teammitgliedern.
  2. Funktionierende Prozesse und Abläufe über umfassende Dokumentation: Agile Teams legen den Fokus auf die Bereitstellung von funktionablen Resultaten als primäres Ziel. Das bedeutet nicht, dass Dokumentation unwichtig ist (und gerade im Krankenhaus ist sie an verschiedenen Stellen absolut notwendig), sondern dass die Funktionalität und Ergebnisse im Denken Vorrang haben.
  3. Zusammenarbeit geht über „Vertragsverhandlungen“: Agile Teams arbeiten eng mit Kunden (hier: Patienten, Mitarbeitende und Prozess- und Vertragspartner) und Stakeholdern (hier: Verantwortliche Systembeteiligte wie Geschäftsführer, Gremien etc.) zusammen, um deren Anforderungen und Bedürfnisse zu verstehen und die eigenen Leistungen entsprechend anzupassen. Dies steht im Gegensatz zu langwierigen Vertragsverhandlungen ohne echte Wirkung.
  4. Reagieren auf Veränderung steht über dem (blinden) Befolgen eines Plans: Agile Teams sind flexibel und passen sich Veränderungen an. Sie akzeptieren, dass sich Pläne ändern können, und reagieren entsprechend, um den aktuellen Anforderungen besser gerecht werden zu können.

Agilität ist demnach mehr eine (Grund)-Haltung als nur ein
vordergründiges Verhalten, während wir wissen, dass die agile Arbeitsweise nicht in jedem Bereich passend sein kann. Wir haben bereits in verschiedenen Projekten vornehmlich in der Administration und im Krankenhaus-IT Bereich agile Methoden und Organisationsformen eingeführt, was immer auch ein Cultural Changeprozess war. Im zweiten Teil der Kolumne werden wir von unseren Erfahrungen berichten, auf einzelne bekannte agile Methoden wie KanBan, Scrum und OKR noch einmal genauer eingehen und die Grenzen agiler Unternehmenskultur aufzeigen.

Nur eines ist gewiss: Der Fisch beginnt am Kopf zu wachsen! Wenn Sie mehr Agilität in Ihrem Haus und Ihrem Bereich wünschen, dann fangen Sie zuerst bei sich selbst und Ihren Werten und Überzeugungen an, damit es nicht bei einer farb- und kraftlosen Einführung von agilen Methoden bleibt, die am Ende nicht gelebt werden.
Viel Erfolg beim schrittweisen Loslassen und Herantasten an flexible und partizipative Führungskultur wünschen wir Ihnen – denn darum geht es im Kern!

Pia Drauschke und Stefan Drauschke im September 2023