Ikigai (Changebrief 83)

Ikigai – oder wie man mehr zu sich selbst findet

Heute Morgen hatten wir eine bemerkenswerte Begegnung mit einem Berliner Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen. Er hatte vor dem Büro geduldig auf uns gewartet, bis wir dann, mit einigen Minuten Verspätung, zum Taxi eilten nach einigen morgendlichen Abstimmungen mit Mitarbeitern. Als wir Platz genommen hatten und geklärt war, wohin die Fahrt führen solle, fragte er höflich, ob wir einmal unterwegs in sein neues Buch schauen wollten. Etwas überrascht – noch nie trafen wir einen buchschreibenden Taxifahrer – stimmten wir zu und er reichte uns prompt ein freundlich gestyltes Taschenbuch mit Nummerierung und persönlicher Widmung des Autors Jörg Hemmerling nach hinten. Der Buchtitel lautete „Begegnungen im Rückspiegel – Taxi Berlin“ und er erklärte uns mit angenehmer Stimme, dass er in 40 Jahren Berufsleben als Taxifahrer so viele bewegende, spannende und teilweise auch grausliche Geschichten erlebt hat mit seinen Fahrgästen, dass er sich entschieden hatte, darüber ein Buch zu schreiben. Zu denken gab uns der Name seiner Homepage www.momentepfluecker.de. Das Wortspiel klärte er schnell auf, denn bemerkenswerte Momente aufzulesen sei eigentlich das, worum es ihm im Kern geht. Dazu fotografiert er leidenschaftlich gerne und hält Momente auch auf diese Weise mit seiner Kamera fest. Dies alles sei seine Berufung, doch sein Beruf als Taxifahrer hilft ihm sehr dabei, mehr von solchen Momenten mit interessanten Menschen zu erleben.

Wir waren recht bewegt, denn hier hat jemand seinen eigenen Sinnkern offenbar entdeckt, was sonst oft Gegenstand unserer Coachings oder auch vom Business-Retreat ist. Viele Menschen haben einen Beruf, einen Titel, Aufgaben, Ziele und ein ausgefülltes Leben, das jedoch nicht erfüllt sein muss. Wie oft geschieht es, dass man die Leiter des Lebens mit viel Einsatz und Anstrengung immer weiter hinaufklettert, um dann womöglich festzustellen, dass sie an der falschen Mauer lehnt, wie es S. Covey so schön umschrieben hat.

Zu Beginn des Jahres ist es sicher angemessen, noch einmal kurz inne zu halten und auf das zu schauen, was war und was man noch vor sich hat. Es ist Teil der Kultur und des heutigen Berufsalltags, dass die Beschleunigung aller Vorgänge fortschreitet. Die Welt wird zunehmend „VUKA“ (volatil, unsicher, komplex und ambigue). Das Buzz-Wort des Jahres ist „Agilität“, was manchen bodenlos vorkommt, Ängste bereitet und manchen als Vorwand für fehlende Planungs- und Strategiekompetenz dient in der Welt der digitalen Transformation. Ein Termin jagt den nächsten, es bleibt nicht einmal mehr Zeit, sich vernünftig vorzubereiten. Wir simsen, kollaborieren, mailen oder googeln und decken uns in der verbleibenden Freizeit mit einer Vielzahl geplanter Aktivitäten ein. Gleich drei oder vier Projekte werden „intensiv“ auf einmal bearbeitet. Das Hamsterrad dreht sich auf diese Weise immer schneller und manche kommen an den Rand des Burnouts – oder darüber hinaus. Viele „Vielleister“ leiden unter Schlafstörungen, eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung und ein so wichtiges Beziehungsleben bleiben „auf der Strecke“, während man ständig beschäftigt oder – sozusagen- auf der Flucht ist.
Gerade jetzt sind eine enge Ankopplung an sich selbst mit den eigenen Bedürfnissen und Werten sowie eine klare Wertebasis im Unternehmen wichtig. Bei der hohen Komplexität und Geschwindigkeit sind Möglichkeiten bedeutsam, zu „entkomplexieren“ und zu entschleunigen, mit Zeit achtsam umzugehen und die wirklich wichtigen Themen („First Things“) zu erkennen und zu priorisieren. Neue Kompetenzen sind gefragt, in diesem Umfeld gesund und leistungsfähig zu bleiben, das wissen inzwischen auch die Unternehmen. Sich nicht ablenken zu lassen und mit neuen Technologien besser umzugehen ist z. B. so eine neue Kompetenz, der ein aktuelles Buch gewidmet ist (Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen, N. Eyal, Redline Verlag, 2019). Achtsamkeit und Meditation haben branchenübergreifend Einzug gehalten in die Trainings für Führungskräfte aller Ebenen.

Doch wenn Veränderungen anstehen, genügt es nicht, die Bühne zu wechseln (neue Beziehung, neuer Arbeitsplatz), sondern es sollte eher klar werden, welches persönliche „Stück“ man zur Aufführung bringen möchte und was einem in diesem Leben wirklich bedeutsam ist („True North“). Wenn man bei diesem Erkenntnisprozess auf eigene, tiefe und bedeutsame „Wahrheiten“ stößt, hat das für jeden erhebliche Auswirkungen auf die weitere Wahrnehmung und Entwicklung, die eigenen Wirklichkeitskonstrukte und auf relevante Entscheidungen. Die sogenannte „heimliche Visitenkarte“ zu entwickeln, auf der steht, wer man tatsächlich ist, ist ein Beispiel für so eine tiefe Wahrheit, die anziehend wirkt für das, was Ihnen wirklich wichtig ist. Unser Taxifahrer hat sie mit der Bezeichnung „Momentepflücker“ für sich gefunden, wie er uns glücklich bestätigte. Aus eigener Erfahrung können wir beipflichten, dass diese Erkenntnis, wofür Sie im Kern und mit vollem Herzen stehen, stärkt und widerstandsfähig gegen Krisen macht. Man nennt diese psychische Widerstandskraft auch Resilienz, deren Säulen aus Optimismus, Akzeptanz von Situationen, das Verlassen der Opferrolle, Lösungsorientierung, Kontaktfreudigkeit, das Gefühl von Selbstwirksamkeit, eine realistische Selbsteinschätzung und Visionen für die Zukunft bestehen.

Von vielen 90 bis 100jährigen Japanern kann man vieles darüber lernen. Sie leben das Ikigai, wobei „Iki“ Leben heißt und „gai“ Wert oder Bedeutung. Sie sind und bleiben bis ins hohe Alter beschäftigt. Es geht um Selbsterfüllung und wie man sie erreicht und um Orientierung an zentralen Lebensthemen. Die vier Sphären des Ikigai sind: Was wir gut können, was wir lieben, was die Menschen brauchen und wofür sie gut bezahlen. In der Schnittmenge aller vier Felder liegt das Ikigai (nach dem Buch: Vergesst Networking – oder macht es richtig, M. Haas, Vahlen 2019).

Nun ist es nicht leicht, sich im Trubel des beruflichen und familiären Alltags auf dem Weg zu seinem eigenen Sinnkern zu machen. Hierfür braucht es eine gut begleitete Auszeit von sich selbst mit einem klärenden Prozess, wie ihn ein Business-Retreat darstellt oder ein professionelles Coaching. Es geht darum, eigene Themen, Fragestellungen, Probleme oder Entscheidungen zu einer Lösung oder zur Erkenntnis zu führen. Das Ganze erfolgt auf einer „anderen Flughöhe“, fernab vom Alltag, am besten in einer wunderbaren, naturnahen Umgebung und mit ausreichend Zeit. Natürlich bleibt das alltägliche Umfeld – zunächst – unverändert. Doch Sie können nicht andere Menschen ändern, nur sich selbst.  Entscheidend ist nicht was, sondern wie Sie es wahrnehmen und wie Sie auf äußere Reize im Inneren und nach außen reagieren. Bleiben Sie im Fahrersitz; wenn Ihnen an Ihrem Leben Dinge nicht gefallen oder Probleme auftauchen, dann ändern Sie Ihre eigene Wahrnehmung, Ihre Haltung, Ihre Einstellung und Ihr Verhalten so lange, bis Ihnen begegnet, was Sie erreichen wollen.

Gez. Drauschke und Drauschke, im März 2020