Leben in Balance (Changebrief 81)

Selbstführung für Vielarbeiter und Führungskräfte:
Über die Sehnsucht nach einem Leben in Balance.

Am 24. September ist Herbstbeginn und die Tage und Nächte sind für kurze Zeit im Gleichgewicht gleich lang, während die Sonne genau senkrecht über dem Äquator steht. Ab jetzt werden die hellen Tage jeden Tag einige Minuten kürzer und die dunklen Nächte länger – bis zum 21. Dezember. 
Doch bei allem auf und ab, wer träumt nicht davon, ein ausgeglichenes, ausgefülltes und zufriedenes Leben zu führen. Schließlich haben wir in diesem Leben nur das eine Leben – und da lohnt es sich schon einmal, darüber nachzudenken, wie Lebenszeit wirklich gut zu verbringen ist. Keine Stunde kommt zurück, so wie auch kein gesprochenes Wort zurückzunehmen ist. Doch woran kann man denn erkennen, was in diesem Sinne „gut“ ist?
Hier hilft ein Gedankenexperiment von Stephen R. Covey, die berühmt gewordene Grabrede. Es geht darum, selbst eine Rede darüber zu schreiben, was man in diesem Leben bei seinen wichtigsten sozialen Bezugskreisen hinterlassen hat, wenn man nichts mehr daran ändern kann. Man schreibt selbst drei Reden in denen zu lesen ist, was man am liebsten von seiner Familie, von seinen Kollegen/Geschäftspartnern und seinen Freunden hören würde.
Wem das zu makaber ist, der kann auch den 77. Geburtstag als Anlass dafür nehmen sich vorzustellen, was man zu diesem Zeitpunkt als Festrede hören wollte. Sich zu aktiven Lebzeiten darüber Gedanken zu machen, ist ungemein hilfreich, um sich schon jetzt so zu verhalten, dass man die Wahrscheinlichkeit erhöht einst zu erfahren, was einem offenbar wirklich wichtig ist und wie man wahrgenommen werden möchte.
Im Coaching arbeiten wir häufig bei anstehenden Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen mit der Frage, welche Entscheidung, welches Tun oder Unterlassen hilfreich wäre, um beispielsweise fünf Jahre später wirklich freudig zurückblicken zu können und zu sagen: Ja, das war genau richtig für mich und wirklich erfüllend gewesen! Wenn man diese zeitlich rekursive Betrachtungsweise unterlässt und einfach nur seinen spontanen Eingebungen folgt, die sich häufig nach unbewussten, „elterlichen“ Botschaften richten, kann es passieren, dass Sie Dinge tun, die nur anscheinend auf den richtigen Weg führen.
Ein leidenschaftlicher Arzt und Chefarzt beispielsweise befasste sich damit, dass man ihm die Rolle als Ärztlicher Direktor zusätzlich zur Leitung seiner Klinik seitens der Geschäftsführung für sein Haus angeboten hatte. Dieses Angebot war für ihn sehr verlockend, zumal schon als Kind der Vater vorgelebt hatte, dass es immer höher, schneller und weiter gehen müsste und Karriere nur bergauf akzeptabel sei. Mit diesem Bild und dieser Stimme im Kopf war der Drang, das Angebot anzunehmen, verständlicherweise groß. Doch folgte es den eigenen Lebensskripten, wirklichen Leidenschaften und echten Bedürfnissen? Er war sehr gerne Arzt und konnte sich in seiner Klinik dabei verwirklichen und vielen Patienten tatsächlich helfen, finanziell hatte er bereits ausgesorgt. Es war klar, dass mit der neuen Verantwortung als Ärztlicher Direktor hier vieles auf der Strecke bleiben würde, schon aus zeitlichen Gründen.
Er nahm nach gründlicher Abwägung das Angebot nicht an und kam weiter voran auf dem Weg, sein eigenes Leben zu führen und nicht das von anderen Bezugspersonen, die ggf. schon gar nicht mehr auf der Welt sind. Ein Jahr später haben wir uns wieder bei einem Abendessen getroffen und ein ausgeglichen wirkender Chefarzt saß uns gegenüber und bestätigte, dass diese Entscheidung genau die Richtige war. Eine passende Metapher von Covey beschreibt in diesem Zusammenhang die Leiter, die an der Wand des Erfolges lehnt, an der man eifrig, lange und entbehrungsreich emporklettert und – ganz oben angekommen – möglicherweise feststellt, dass die Leiter an der falschen Wand lehnte …

Gehen Sie davon aus, dass ein Großteil Ihrer Entscheidungen unbewusst ablaufen und aus dem tiefen, inneren Betriebssystem bestehend aus (elterlichen) Antreibern, Überzeugungen (Glaubensätzen) und Werten getroffen werden. Werte sind das, was Ihnen wirklich bedeutsam ist und wichtige Entscheidungen beeinflussen, und auch Zufriedenheit vermitteln, wenn sie gelebt werden. Ziele sind zukünftige Zustände, die Sie unbedingt erreichen wollen, und zwar am besten im Einklang mit Ihren Werten und dem, was Ihnen wirklich bedeutsam ist.
Hierzu gehören gute und reiche Beziehungen zu anderen Menschen aus verschiedenen Kontexten wie Familie, Berufsleben und Freunden (s.o., Geburtstagsrede). Ziele und Werte gehören damit ziemlich sicher zu den „First Things“, die im Leben mit ganz besonderer Priorität zu behandeln sind. Wenn Sie das tun, nachdem Sie herausgefunden haben, welches Ihre ganz persönlichen Werte mit Wertekriterien sind und welche Ziele in welchen Zielfeldern Sie primär verfolgen, sind Sie – auf dem Weg Ihre Zeit gut zu verbringen –  ein gutes Stück weitergekommen.

Doch auch das mit den Zielen ist so eine Sache. Dr. Gunther Schmidt spannt den Begriff Lebensbalance (und bitte nicht Work-Life-Balance ganz gemäß dem Spruch „arbeitest Du noch oder lebst Du schon?“) rautenförmig zwischen vier wichtigen Polen auf, für die man sich auch Ziele setzen kann.

Es beginnt oben mit dem Körper, dem Aufmerksamkeit zu widmen ist, damit er gesund und genuss- und leistungsfähig bleibt. Hier geht es um Bewegung, Ernährung, Schlaf, Gesundheitsprophylaxe etc. Ein weiterer Pol sind Arbeit und Leistung mit den Aspekten der Freude an dieser und Einsatz für die Arbeit, Karriere, Einkommen etc. Ein dritter Pol gilt den Beziehungen, zum einen im partnerschaftlichen und familiären Sinne, zum anderen im Hinblick auf Freunde, Netzwerke, Organisationen etc. Den vierten und letzten Pol bildet der Bereich „Sinn“ mit den Aspekten Liebe, Ethik, Religion im weitesten Sinne, Selbstverwirklichung, Wachstum etc. Von Lebensbalance kann die Rede sein, wenn man es schafft, seine Ressourcen und vor allem seine Zeit und seine Aufmerksamkeit allen vier Polen in angemessener Weise zu widmen. Das wird nie vollkommen funktionieren und ist auch lebensphasenabhängig unterschiedlich. Als frisch gebackene Mutter oder als Vater liegt der Fokus zunächst oft auf der Familie. In frühen Karrierezeiten als „neue“ Führungskraft ist vielleicht der Leistungspol der wichtigste. Im Übergang vom ersten zum zweiten Erwachsenenalter (Lothar Seiwert) beim Verlassen der vierten Lebensdekade und dem Eintreten in die fünfte stellen sich viele Menschen die Sinnfrage. Sie probieren, vieles im Leben zu ändern, leider häufig unreflektiert und mit dem Ergebnis, dass manches in neuer Arbeits- oder Beziehungskulisse bald wieder so ist wie vorher. Sie müssen feststellen, dass es häufig in gewisser Weise dann doch mehr vom Selben war und sich zwar die Bühne geändert hat, aber nicht das Spiel. „Auf der anderen Seite vom Pferd gefallen ist noch lange nicht geritten“ sagte Dr. Bernd Schmid – ein passendes Zitat dafür.

Wenn Sie Ihre Lebenszeit gut verbringen können mit dem Fokus auf den „First Things“ und dabei auch noch auf die Lebensbalance Acht geben, kann ja kaum noch etwas schiefgehen. Doch wenn Sie Ihr Glück vom optimalen Erreichen der idealen Lebensbalance abhängig machen, werden Sie eventuell nur wenig Erfolg haben. Wie am Kurs eines Flugzeuges oder Segelschiffes zu sehen ist, sind diese nie vollkommen auf Kurs. Sie weichen in einer Schlangenlinie immer rechts und links vom Kurs ab, und durch das sanfte und konzentrierte Nachsteuern kommt man dann doch an, wo man wollte, was man Metabalance nennen kann. Wer schon mal auf einer Segelyacht bei Wind und Welle Kurs gegangen ist weiß, von was wir hier sprechen. Man ist nie wirklich in Balance, bemerkt Abweichungen und steuert stets nach. Doch das ist bezogen auf Lebensbalance schon ein wenig anspruchsvoll und setzt viel Selbstreflexion voraus, was man gut begleitet bei einem Business-Retreat im schönen Himmelpfort erleben kann.

Es ist sehr hilfreich, die eigene Endlichkeit achtungsvoll zu akzeptieren. Es geht um Metabalance, darum nicht mehr allem gerecht werden zu wollen und um die eigene Wertschätzung mit den eigenen Bedürfnissen und Lebensweisen. Üben Sie sich in Ambivalenzmanagement, legen Sie die Sehnsucht ab, perfekt zu sein, während Sie gerne gleichzeitig Partei für diese Sehnsucht ergreifen können (nach Dr. Gunther Schmidt).

In diesem Sinne hoffen wir, Ihnen ein paar wirksame Denkanstöße für Ihre ganz persönliche Lebensbalance gegeben zu haben.

Pia Drauschke und Stefan Drauschke im September 2019