Über Krisen und den Umgang damit – oder was der radikale Konstruktivismus mit Resilienz zu tun hat (Changebrief 101)

“Crisis, what crisis?” – so lautete der vierte LP-Titel der Kultrockband „Supertramp“ im Jahr 1975. Und heute scheint dieser Titel aktueller denn je zu sein. Im Rahmen der „Zukunft Personal Europe“ hat Christina Bösenberg von BCG Brighthouse kürzlich das schöne Wort „Stapelkrisen“ geprägt. Und in der Tat, die Klimakrise, Corona-Krise, Ukraine-Russland-Krise, Inflationskrise, komplette Überbevölkerung mit inzwischen mehr als 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten…, wir kommen aus dem sich immer weiter befeuernden Krisenmodus gar nicht mehr heraus. Zu diesen extremen Herausforderungen im Umfeld kommen ständige Veränderungen in den Unternehmen und Arbeitswelten hinzu – es kommt zu so einer Art „Dauerchange“. Und das alles erzeugt jede Menge Probleme.

Wenn man nun dem ein wenig provokanten Denkansatz des „radikalen Konstruktivismus“ gedanklich einmal folgt, dann wäre die sogenannte Wirklichkeit nicht wirklich, sondern wird im Zuge der Sinneswahrnehmungen von dem Organ zwischen unseren Ohren erst konstruiert – das Gehirn als autopoetisches, wirklichkeitserzeugendes Organ. Nehmen Sie an, ein Anblick bestehend aus Lichtstrahlen trifft auf Ihr Auge, dann finden in der Netzhaut in den Stäbchen und Zäpfchen chemische Zerfallsprozesse statt, die einen elektrischen Strom auslösen. Dieser breitet sich entlang der Nervenbahnen aus, der synaptische Spalt wird dann wieder chemisch mittels Neurotransmittern überbrückt und dann geht es elektrisch weiter, durch verschiedene sortierende und bearbeitende Hirnkerne bis zur Großhirn-Okzipitalrinde im Hinterkopf, wo letztlich ein Bild „entsteht“ – ist das Wirklichkeit? Jede Fliege mit ihren Facettenaugen würde etwas ganz anderes wahrnehmen und Männer mit Rotgrünblindheit ebenso. Dieses Beispiel lässt vielleicht besser verstehen, was mit dem „Wirklichkeitskonstrukt“ unseres Gehirns gemeint ist.

Und wenn man Wirklichkeit und damit auch Probleme als differente Bewertung zwischen Ist und Soll selbst konstruieren kann, dann kann man sie mit Sicherheit auch dekonstruieren, soweit der theoretisch-philosophische Ansatz. Doch dieser hilft objektiv nur bedingt weiter, bietet allerdings vielleicht zumindest subjektiv Ansätze, um mit Problemen und Krisen besser umzugehen.

In seinem Buch „Liebesaffären zwischen Problem und Lösung – Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten“ (ISBN-10: 3896704303) beschreibt der Autor Gunther Schmidt ganzheitlich-lösungsfokussierende Konzepte mit der Orientierung auf Kompetenzen, Ressourcen und Lösungen. Gerade aus dem Gegensatz von Problem und Lösung entstehen oft wichtige Erkenntnisse und Kraft für Neues.

Wenn man Beispiele finden möchte, dann wird man schnell fündig. So führt die aktuelle Gas- und Ölknappheit zu einer beschleunigten Entwicklung erneuerbarer Energien. Die Inflation und Kostenexplosion – neben der digitalen Transformation –treiben die Restrukturierung des Gesundheitswesens voran. Die ständigen Lügen und Hassreden der MAGA-Fraktion (make Amerika great again) in den USA haben anlässlich der Midterms 2022 ein unerwartetes Vernunftpotential bei den Wählern freigesetzt. Doch auch im persönlichen Umfeld haben Sie vielleicht schon bemerkt, dass manche Lösungen zu Problemen führen – und umgekehrt. Manchmal hat eine Krankheit schon zu einem radikalen Lebenswandel zum Besseren bewirkt, und Gunther Schmidt spricht mit Bedacht von „Burnoutkompetenz“, die den Betroffenen ermöglicht, in einen kompletten Ruhemodus zu gehen, bevor Schlimmeres geschieht. Auch führt so manche Lösung zu ungeahnten Problemen, wie man wiederum an den aktuellen Krisen ablesen kann.

Wenden wir uns den Möglichkeiten zu, mit Krisen umzugehen. Nach den Gesprächen, die wir in Workshops, Trainings oder Coachings führen, sind viele von uns ganz schön „mürbe“ geworden durch die Dauerbelastungen und Ängste, die von den gestapelten Krisen ausgehen. Entspannung oder Durchatmen erscheint vielen nicht mehr möglich, andauernde Angst macht sich breit.

Zunächst wollen wir Angst und Furcht unterscheiden. Aus dem lateinischen entstammt die Angst den Worten angustia für „Angst“ und angor für „Enge, Beengung, Bedrängnis“. Das Wort „Angst“ gibt es als Wortexport auch im Englischen als German Angst, die andauernde Existenzangst meint. Dabei ist die objektunbestimmte Angst ein unbestimmtes Gefühl der Beklemmung oder Besorgnis, das von unspezifischen Einflüssen ausgeht, die als potenziell bedrohlich wahrgenommen werden. Objektbezogene Furcht (lateinisch Timor) hingegen wird durch konkrete Reize, Objekte oder Situationen ausgelöst und erzeugt eine Alarmreaktion.

Widerstandskraft gegen Krisen, Stressmanagement und eine tiefgründige Gelassenheit wären jetzt hilfreich. Allein zu wissen, dass der größte Teil der Sorgen, die man sich in seinem Leben gemacht hat, im Nachhinein als unbegründet erscheinen, lässt die Sorgen und Ängste im Moment oft nicht weniger werden. Auch hilft es nicht, einer Person, die Angst hat, zu sagen, sie solle keine Angst haben.

Was würden wir als Coaches tun oder sagen, wenn uns ein Coachee mit solchen Sorgen und Problemen aufsuchen würde? Nun ja, wir würden dem Gespräch erst einmal den Boden bereiten mit der einen oder anderen Geschichte wie im ersten Teil dieser Kolumne. Und dann würden wir konkreter werden und folgende Strategien anbieten:

Abschichten

Wenn alles zu viel zu werden droht und man beginnt, den Überblick über Fakten und Gefühle zu verlieren, dann lohnt es sich, einmal tief durchzuatmen und die verschiedenen Problemlagen abzuschichten – Lage für Lage. Und wenn dann die meisten Themen differenziert vor einem liegen, dann können Sie priorisieren und Punkt um Punkt abarbeiten. Sie wissen ja, wie man einen Elefanten isst: Stück für Stück!

Differenzieren: Love it, change it or leave it

Wenn Sie abgeschichtet haben, dann können Sie auch beurteilen, welche der Themen Sie angehen können, um diese zu bearbeiten, zu lösen oder zu ändern. Wenn Änderungen nicht möglich sind, dann können Sie sich damit arrangieren, oder es mögen oder auch einfach nur hinnehmen. Die Differenz der Bewertung im Ist und Soll entsteht zunächst in Ihrem Kopf. Wir können Putin ebenso wenig direkt beeinflussen wie Trump, auch die Inflation ist als gegeben hinzunehmen. Die Frage ist doch nur, wie nahe wir die damit verbundenen Bedrohungen an uns heranlassen, oder sozusagen in einen anderen (mentalen) Raum stellen und erst einmal dort ruhen lassen, weil wir diese nicht verändern können. Schlechte Gefühle wie Angst schaden immer nur demjenigen, der sie selbst hat. Natürlich steht es Ihnen frei, sich in einer ruhigen Minute pragmatische Krisenbewältigungsstrategien zurechtzulegen und beispielsweise den einen oder anderen Wasser- und Benzinkanister sowie einige Nahrungsmittel und Kerzen als Reserven anzulegen, um einer möglichen Knappheit zu begegnen. Darlehensnehmer mit niedrigen Zinsen frohlocken sogar, wenn sie sich vorstellen, dass die Inflation das Darlehen sozusagen von alleine abzahlt.
„Leave it“ erscheint im aktuellen Krisenszenario weniger erfolgversprechend zu sein. Wenn das „Worst Case Szenario“ eintritt, dann hilft auch ein Luxusbunker auf Neuseeland nicht, wie ihn sich verschiedene Superreiche in den letzten Jahren zugelegt haben.

Für sich und andere sorgen und die Resilienz stärken

Sie werden wahrscheinlich schon einmal bemerkt haben, dass man bei wenig Schlaf, schlechter Ernährung und ungenügender Bewegung dünnhäutig wird und weniger leistungsfähig sowie nicht mehr kreativ ist. Es ist eine echte Herausforderung, bei äußeren Bedrohungen im Krisenmodus trotzdem und gerade dann für sich zu sorgen, um beweglich und handlungsfähig zu bleiben und zeitnah Lösungen zu finden. Wie wollen Sie denn sonst für sich und andere sorgen?

Sie können auch vorbeugen, indem Sie Ihre Widerstandskraft gegen Krisen stets und stetig verbessern. Stärken Sie Ihr Selbstbewusstsein, indem Sie täglich am Abend ein Erfolgstagebuch führen und regelmäßig flexibel Ihre Komfortzone verlassen, indem Sie neue Herausforderungen annehmen und sich Ihren Ängsten stellen. Bleiben Sie optimistisch und achten Sie auf positive Gedanken. Akzeptieren Sie Veränderungen und hängen Sie nicht der Vergangenheit nach mit den Erinnerungen an scheinbar bessere Zeiten. Verlassen Sie die Opferrolle und nehmen Sie dafür im Fahrersitz Platz. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben und für Ihre Entscheidungen und lernen Sie aus Fehlern. Setzen Sie sich Ziele und achten Sie auf die Vielfalt und Belastbarkeit Ihrer sozialen Kontakte und Netzwerke.

Neurahmung und Umdeutung

Wenn Ihnen Dinge begegnen, die krisenartig und belastend sind, dann können Sie sich fragen, was daran bedrohlich und schlecht ist und was die negativen Folgen daraus sind. Als nächstes betrachten Sie, was gleich und davon unberührt bleibt. Schließlich prüfen Sie, welche Vorteile und Chancen darin zu finden sind. Und wenn Sie beim besten Willen keine wahrnehmen, dann notieren Sie, welche es wären, wenn es diese geben müsste! Ja, notieren Sie alle drei Kategorien und lenken dann Ihre Aufmerksamkeit auf die dritte Kategorie der Chancen und arbeiten daran. Nicht umsonst kennt der Volksmund den Spruch „Not macht erfinderisch“. Bitte verstehen Sie uns nicht falsch, keine der Krisen wünschen wir uns oder begrüßen sie, doch wenn diese auftreten, dann ist es eine hilfreiche Strategie, stets das Beste daraus zu machen. Förster und Kreuz haben ein ganzes lesenswertes Buch darüber geschrieben mit dem schönen Titel „Versäume keine Krise“ (ISBN-10: 3981626273).
Der Weg zu innerem Wachstum und wahrer Größe liegt darin, sich den Tiefpunkten zu stellen und daran zu wachsen.
Und wenn Sie aus der Angststarre ins Handeln gekommen sind, dann fühlt sich das zum einen nicht nur deutlich besser an, sondern es resultieren aus den Problemen des Öfteren Lösungen, die es ohne die Probleme nie gegeben hätte.

Wir laden Sie nun dazu ein, einmal für sich zu resümieren, welche Lösungen und positive Situationen und Errungenschaften es ohne die diesen zu Grunde liegenden Herausforderungen gar nicht gegeben hätte. Crisis, what crisis?

Pia Drauschke und Stefan Drauschke

Im November 2022